Von Oliver Abraham
Amrum, Nebel. Es ist März und es ist ein strahlend schöner, sonniger Tag auf Amrum. Tiefblau spannt sich der Himmel über die Nordseeinsel und das Meer. Der Sand ist schon warm, man kann bereits darin sitzen. Ich wandere ab der Höhe eines Ortes, der Nebel heißt und im Hinterland der Insel liegt. An der Küste geht es zunächst Richtung Nordwest, Norddorf ist das Ziel. Es ist bereits spät am Tag. Die Sonne scheint noch mit all der Kraft, die sie schon hat. Dass sich das „Wetter“ in kaum mehr als einer Stunde komplett ändern wird, das Schöne dem Spuk weicht, ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu ahnen. Unterwegs im Ungefähren.
Seenebel steht wie eine Bank über dem Kniepsand vor Amrum
Vor Amrum liegt eine riesige, unendlich erscheinende Sandmasse, das ist der Kniepsand. Er wird von Wasser, Wind und Wellen stetig neu geschaffen, der Kniepsand schmiegt sich im gesamten Westen und Süden um die Insel und ist bis zu eineinhalb Kilometer breit, ein unermesslicher Strand. Diese Gegend gehört zu den schönsten Küstenlandschaften der Nordsee – weit, wild und wunderbar. Ein großartiger Ort zum Dasein, Spazieren, Wandern; ein Ort voller maritimer Momente. Und einer der wenigen mit ganz großer Freiheit. Ungezähmt und einzig dem Regime von Wasser, Wind und Wetter unterworfen.
Die Nebelwanderung beginnt bei schönstem Sonnenschein
Zur Insel selbst gehört dieser Sand, geologisch betrachtet, nicht – die beginnt erst mit der Dünenkante, die sich ebenfalls an der gesamten Westküste der Insel entlang zieht. Der Sand taucht aus der Nordsee auf und ist in ewiger Bewegung. So liegen auf dem Kniepsand selbst Dünen; manchmal mehrere Meter hoch und hunderte Quadratmeter groß, Dünen wie Inseln in einem Meer aus Sand. Ich bin jetzt allein unterwegs. Nördlich des Strandübergangs in Höhe Nebel beginnt ein Labyrinth, ein wahrer Irrgarten, aus diesen Düneninseln. Glaube niemand, der vor Dünen steht, er sei schon wieder an Land. Es sind nur die Vordünen, Gaukelei, heute hier und morgen fort. Kommt hinzu: Winterliche Sturmfluten überspülen den Kniepsand bisweilen an den Kanten, so steht zwischen den Düneninseln immer wieder Wasser.
Es ist absolut windstill über dem Meer vor Amrum
An diesem sonnigen Spätnachmittag ist es absolut windstill und die Strandseen liegen wie Spiegel auf dem Kniepsand, die Bilder der Dünen gespiegelt auf der Wasseroberfläche. Es sind faszinierende Motive und phantastische Eindrücke, ein herrliches Sichverlierenlassen, wenngleich eines mit dem Kompass in der Tasche. Wie wichtig dieser Kompass in weniger als einer halben Stunde sein wird, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sohlentief sind manche Wasser nur und die Schritte verwerfen die Spiegelbilder von Himmel und Dünen zu Zerrbildern; flüchtig, vergänglich, und wie die Illusion eines Traumes.
Was für eine Aussicht – so klar, so crisp
Ich marschiere weiter und weiß, dass mein Ziel im Nordosten liegt, dass die Strecke außen rum weit ist und es in Norddorf bereits dunkel sein wird, wenn ich ankomme, ich weiß, dass die Dünenkante, die Insel, zu meiner rechten liegt, im Osten, und ich habe ja den Kompass dabei. Überhaupt: Was für eine (Aus-)Sicht, so klar, so crisp und knackig. Was für eine Verlockung.
Dass in einer Viertelstunde kaum mehr etwas zu erkennen, zu sehen oder zu unterscheiden sein wird – ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Die Sonne steht längst tief und wird bald den Horizont auf dem Meer erreichen, die Nordsee liegt still und in einem eisigen Blau im Westen, gleichmütig und unendlich, klare Kante auch hier. Das schräge, lange Licht modelliert die Dünen, ihre zunehmend längeren Schatten schärfen die Struktur, der Sand leuchtet gelb und gold, Dünen schön wie auf der Postkarte. In der Abbruchkante einer Düneninsel, Sturmflut!, steht eine Bude, die aus Strandholz gezimmert wurde, halb versunken schon im Sand und wie ein Bild der Vergänglichkeit.
Die Sonne wird zum orangefarbenen Strich
Die Sonne sinkt auf den Horizont über dem Meer, eine diffuse und verwischte gelb-orange Aura darum, warm wirkt es, der Himmel darüber ist tiefblau, kalt und eisig, und schon ist die Schwärze des Weltraums darin zu erkennen. Die Schatten auf dem Kniepsand und das Wasser der Strandseen wirken jetzt dunkel. Ich ahne, dass etwas Seltsames vor sich geht, ohne sagen zu können, was. Der Horizont ist nun ein orangefarbener Strich, darüber plötzlich eine Nebelbank. Lauernd liegt sie draußen auf See, drohend, und mit jedem Augenblick wird sie dichter und dunkler, scheint sich mehr und mehr zu materialisieren.
Unterschiedlich Temperaturen in den Luftmassen führen zu Nebel
Ich blicke aufs Meer, nicht sorgenvoll, jedoch mit gemischten Gefühlen, und ich begreife jetzt, was passiert: Warme Luft kann mehr Feuchtigkeit speichern als kalte, diese Feuchtigkeit ist darin „unsichtbar“. Kühlt sich warme Luft mit der darin aufgelösten Feuchtigkeit ab, kondensiert diese zu feinen Tröpfchen – es bildet sich Nebel. Im Frühjahr ist das Wasser der Nordsee und damit die Luft darüber kälter als die Luft über Land, denn die ist an sonnigen Tagen bereits erwärmt. Treffen sich diese deutlich unterschiedlich temperierten Luftmassen, bildet sich an der Grenze Nebel, passiert das über dem Meer, spricht man von Seenebel, geschieht es über der Küste, dann von Küstennebel. Oder es bewegen sich kalte Luftmassen an Land und lassen dort die gespeicherte Feuchtigkeit in der Luft kondensieren.
Bald sieht man nichts mehr, die Weite löst sich auf
Man sieht bald nichts mehr, und das kann sehr, sehr schnell gehen. Unvermittelt. Unterwegs in einem unermesslichen Raum. Die Lichtfinger des Amrumer Leuchtturmes huschen über das Land, den Sand, die See. Es wirkt schon klein und fern, es liegt in meinem Rücken. Der Blick auf das Land, und ich merke, dass das Kristallklare in der Luft verschwindet, zunächst allmählich. Zwar ist noch alles zu erkennen, aber die Weite löst sich auf und die Fernsicht ist gemindert, die Atmosphäre ändert sich minütlich. Vor mir liegt eine gewaltige Düneninsel, sie markiert den bald nötigen Schwenk meines Weges, von Nordwest auf Nordost. Die Vogelstimmen werden leiser und die Brandung auch, und dann ist alles auf einmal in vollkommener Stille und wirkt wie verschluckt, das fällt jetzt auch auf.
Bilder verwackeln und verschwinden schließlich
Noch immer spiegeln sich die Dünen auf dem Kniepsand im Wasser der Strandseen, doch auch dieses Bild wird von Augenblick zu Augenblick diffuser, das Wasser beginnt leicht zu zittern, die Bilder verwackeln und verschwinden schließlich, es löst sich auf und plötzlich ist alles unbegreiflich. So schnell, so tiefgreifend geschieht es und man begreift es nicht. Besser, ich gehe jetzt nach Hause. Die Hände umfassen den Kompass in der Tasche. Wer hätte das geahnt, vor einer Stunde noch oder vor fünf Minuten nur. Sich vorher den Seewetterbericht angesehen zu haben, da steht so was drin.
Die Nebelbank rollt näher
Die Nebelbank steht schwarz über dem Meer; der Seenebel ist da und er wird jetzt zu mir kommen. Es ist sehr mächtig, was unterwegs ist, was nun passiert. Die Nebelbank ist schon viel näher, sie rollt heran. Gleichzeitig umfasst mich ein eisiger Hauch, weiterer Nebel bildet sich plötzlich wie aus dem Nichts um mich. Ich will zur Düne, gehe zügig, der Nebel ist schneller als meine Schritte. Ich bleibe stehen und sehe, wie die gewaltige Düneninsel im Nebel verschwindet. Ich kann es von zehn herunterzählen – und weg ist sie. Ich bin da jetzt drin. Es ist im wahren Wortsinn ergreifend, was hier passiert. Man spürt die mögliche Gefahr, die von diesem Naturphänomen Seenebel ausgeht, man staunt still und ist fassungslos, es ist wie im Banne des Unheimlichen. Ich schaue noch und versuche zu verstehen, und vor allem die Orientierung zu behalten. Sturm ist nicht gemeldet, das Wasser wird nicht hochauflaufen, doch instinktiv sehe ich zu, dass ich von der Wasserkante wegkomme. Und muss ich mich nicht nur an der Dünenkante im Osten, zu meiner Rechten halten?
Die Orientierung frei Schnauze übrigens ist schnell dahin. Und das Licht des Leuchtturms? Es ist nicht mehr zu sehen. Der Nebel verschluckt alles. Hinter den Dünen leuchtet ein weiteres Licht, noch ist es zu erkennen. Es ist weiß und stammt vom Quermarkenfeuer. Einer Leitfeueranlage für die Schifffahrt, die parallel zum Weg den Kurs weist, mit verschiedenfarbigem Licht demjenigen, der unterwegs ist, den Sektor anzeigt, in dem er sich befindet – denn später soll ich daraus ein rotes Licht sehen und wissen, dass ich auf dem richtigen Weg bin, mich in korrekter Position zum Quermarkenfeuer befinde. Dann ist auch dieses Licht für mich erloschen.
Eine Wanderung im Blindflug
Die kommende Stunde ist ein Blindflug und das Gefühl eines völligen Verlorenseins kommt auf. Es ist nicht weiß, was um mich wabert, die ganze Sphäre wirkt blau oder graublau, ein düsteres Blau. Die Augen gewöhnen sich zwar an dieses Dämmerige, ich kann meist auf bestimmte Distanz sehen, doch wirkt alles minderdimensional. Aber muss ich mich denn nicht einfach an den Dünen halten, um den Weg zu finden? Gewiss, aber welche sind es? Und einfach nur eine Düne, die auf dem Kniepsand liegt, rechterhand zu haben und daran entlang zu gehen, bedeutet: im Kreis zulaufen. Um manche Dünen stehen Pfosten, sie markieren Schutzgebiete. Den Pfosten zu folgen? Dito. Der Kompass zeigt es an: Ich muss also bald von der Düne, die für diesen einen Augenblick eine trügerische Form der Sicherheit suggeriert, loslassen und ins Nichts gehen. Das ist nicht einfach, zur Gänsehaut kommt ein komisches Kribbeln. Geisterstunde. Wohl dem, der hier und jetzt nicht die Nerven verliert. Ich bin warm angezogen und Proviant ist im Rucksack, habe Telefon und Taschenlampe dabei.
Dünen tauchen aus dem diffusen Blau auf
Es ist völlig surreal. Erst wenn ich fast davor stehe, tauchen aus dem düsteren, diffusen Blau wieder Dünen auf, mit Graten und scharfen Zacken wie sonderbare Sandburgen. Der weiße Sand schimmert in der blauen Geisterstunde. Bilder, wie in einem irren Traum. Sie halten mich auf Kurs, bevor ich wieder loslassen muss, das geht eine Weile so, von Düne zu Düne hangeln. Mein Versuch, nach Osten zur Dünenkante und dem Weg davor durchzukommen, scheitert. Irgendwie. Es geht nicht weiter und die Richtung passt bald auch nicht mehr. Ich stehe vor einem Pfosten, stolpere fast hinein, und blicke in Nichts, der Kompass zeigt nach Süden, in die falsche Richtung. Dennoch ist das ein gutes Zeichen, denn hinter den Sandbergen schimmert gespenstisch ein rotes Licht, vom Quermarkenfeuer. Das heißt: Strecke gemacht, richtige Richtung, korrekter Sektor.
Gespenstische Stille im Nebel
Was wirklich merkwürdig und gespenstisch ist, ist diese Stille. Es wird nun merklich dunkler, aber aus dem Nebel werden allmählich feinste Tröpfchen, ich spüre es im Gesicht. Zwar hängt das meiste noch als Wasserstaub in der Luft, bald jedoch wird ein feiner Sprühregen draus. Durch den kann ich besser sehen. Das rote Licht des Quermarkenfeuers wird deutlicher, wenngleich es immer noch diffus ist. Was ich wenig später aber links voraus sehe, sind die Lichter von Hörnum auf Sylt. Hinter dem Wasser gelegen natürlich, aber klarer werden sie von Augenblick zu Augenblick. Der Nebel löst sich auf, der Spuk, meine Wanderung, hat gute zwei Stunden gedauert. Endlich erreiche ich bei einer Holzplattform die Dünenkante nahe Norddorf, wenige hundert Meter noch sind es bis zum Durchgang zum Dorf im Norden. Eigentlich wollte ich über die „Himmelsleiter“, eine vielstufige Treppe am Dünenrand, ins Hinterland hinaufsteigen. Die habe ich, ich sehe es am kommenden Tag, nur um wenige Meter verfehlt.
– diese Reise wurde unterstützt vom Amrum Touristik
– Informationen zum Reiseziel Amrum: amrum.de
– Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
[…] Amrum: Still, einsam und ohne Kompass ziemlich gespenstisch – eine Nebelwanderung… […]