Von Oliver Abraham

Vechta. Es ist Ende Oktober, der Abend kommt früh. Und es ist kalt geworden im Nordwesten Deutschlands, der Atem steht sichtbar vor dem Gesicht.

Torfabbau und Kraninche im Moor. Foto: Willi Rolfes
Torfabbau und Kraniche, ein gewohntes Bild im herbstlichen Moor. Fotos: Willi Rolfes

Die große Bühne ist bereit für die Show der Kraniche

Es sind Wege in die Einsamkeit hier im Goldenstedter Moor in Niedersachsen und sie sind meist menschenleer, öd wirkt die Landschaft und verlassen liegt das Moor unter dem weiten Himmel. Vom Mensch gemieden, ohne guten Grund kam einst niemand her an solche Orte. Heute schätzt man Moore wegen ihrer Mystik und Magie, man mag das Morbide. Moore sind letzter Rückzugsraum seltener Tier- und Pflanzenarten, Ort schauriger Geschichten.

Früher querten allenfalls ein paar Leute auf gefährlichem Weg dieses verlorene, gefährliche Land, nur diejenigen, die unbedingt mussten. Und was für einen einsamen Tod ereilte Jan Spieker hier an gottverlassenem Ort zwischen verkrüppelten Birken und bodenlosem Wasser. Fast vergessen und lang verloren in Raum und Zeit lag hier der arme Mann.

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Verlassen liegt das Moor unter weitem Himmel. Foto: Willi Rolfes

Das Haus im Moor

Die schmale Straße sticht durch das leere Land, letzte Bauernhöfe bleiben zurück, am Ende der Straße steht das Haus im Moor, als Orientierung für die Besucher der Aufführung. Im Goldenstedter Moor, gelegen im Oldenburger Münsterland, wird jedes Jahr im Herbst die ganz große Show aufgeführt – ein beeindruckendes Naturschauspiel: Einflug und Rast tausender Kraniche während des Vogelzugs.

Kraninche Spektakel im Goldenstädter Moor. Foto: Willi Rolfes
Kraniche bei der Pause. Foto: Willi Rolfes

Auf dem Weg zur Bühne dieser phantastischen Aufführung kommt man an Ort und Geschichte des Jan Spieker vorbei. Erst das Morbide, dann Mystik und Magie. Jan Spieker war ein umherziehender Händler, ein Kiepenkerl. In seiner Kiepe, also einem Tragegestell auf dem Rücken, trug er seine Waren und versorgte damit die verstreut lebende Bevölkerung. Er zog durch das Goldenstedter Moor und wurde Mitte August des Jahres 1828 zuletzt lebend gesehen, als er zwischen den Dörfern Lutten und Drebber zu seinen Kunden unterwegs war. Am 24. September desselben Jahres fand man seine Leiche. Jan Spieker wurde an Ort und Stelle im Moor bestattet, die Grabstelle des Kiepenkerls mit einem Holzkreuz markiert.

„bi Jan Spieker in´n Moore“

Seitdem trägt die Gemarkung die Bezeichnung „bi Jan Spieker in´n Moore“. 150 Jahre später wurde das Grab wieder ausgegraben. Denn längst bauten die Leute hier Torf ab (und tun es an manchen Stellen noch heute), das Grab stand inzwischen frei in der Landschaft – man grub drumherum. Um die Zerstörung der Ruhestätte zu verhindern, machten sich Archäologen ans Werk. Bis auf ein Büschel Haare war der Körper vergangen, aber gefunden wurden unter anderem seine grüne Wolljacke, ein paar Münzen und sein Gebetsbuch. Eine kleine Ausstellung im Naturschutz- und Informationszentrum im Goldenstedter Moor, dem Haus im Moor und gelegen in ebendiesem, berichtet vom Schicksal des Kiepenkerls, ein paar seiner Habseligkeiten sind dort auch ausgestellt.

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Zwei Kraniche im goldenen Licht. Foto: Willi Rolfes

Rast der Kraniche

In der Regel etwa von Anfang Oktober bis Mitte Dezember machen Kraniche hier Rast auf ihrem Weg in den Süden. Wenn es zum Höhepunkt des Vogelzuges Abertausende sind, ist das ein Naturschauspiel, das seinesgleichen sucht. Sie sammeln sich zu riesigen Trupps. Das Goldenstedter Moor im Landkreis Vechta ist Teil des Großen Moors und damit der Diepholzer Moorniederung, zählt zu den wertvollsten Moorlandschaften in Deutschland. Es finden Wiedervernässungsmaßnahmen statt, damit das Moor mit seiner typischen Flora und Fauna erhalten bleibt, beziehungsweise sich wieder entwickeln kann. Seltene Brutvögel wie zum Beispiel Bekassine oder Ziegenmelker nutzen es, Zugvögel wie eben die Kraniche oder Singschwäne kommen zur Rast während der Zugzeit.

Abertausende Kraniche zum Höhepunkt des Vogelzugs

Vom Parkplatz des Haus im Moor geht es zu Fuß weiter. Der Weg führt an den Ort, wo sich die Kraniche bald sammeln werden. Ein paar Leute bauen schon ihre Stative auf und richten die Objektive auf den tiefen Horizont. Es bleibt Zeit, um auf den Pfaden am Rand des Unwegsamen zu spazieren und diese geheimnisvolle, sonderbare Stimmung zu erleben, um Einsamkeit und Naturnähe zu spüren.

Vollmond, Kraninche im Goldenstedter Moor. Foto: Willi Rolfes
Formationsflug vor dem Vollmond. Foto: Willi Rolfes

Man denkt an Jan Spieker und meint, Trugbilder zu erkennen, doch es sind nur sonderbar verwachsene Bäume. Böen greifen in die Birken und das gelbe, goldene Laub wirbelt umher wie seltsames Konfetti, so fehl am Platze in diesem trüben und weiten Raum unter farblosem Himmel. Rote Vogelbeeren strahlen am Strauch und wenn der Wind auf das Wasser greift, verwirft er die Spiegelbilder der Bäume zu bizarren Motiven. Krächzende Vogelrufe und in der Ferne wehen düstere Gardinen aus Regenschauern über das bis zum Horizont leere Land.

Unwiderstehliches Moor

Mit seiner Reduktion auf das Rohe hat dieses Moor hier und heute eine seltsame Faszination – eine Aura; es sind sonderbare Sinneseindrücke, wie der des Gefühls einer Verlorenheit und eines Aufgehobenseins gleichermaßen, einer Klarheit auch im Kopf. Der weite Blick, und der auf die Details. Wie der einer melancholischen Melodie, die – noch – einer Phantasie gleich nur im Kopf zu existieren scheint. Oder eben nicht? Man hat das Gefühl, etwas lockt hinein, etwas Unerklärliches. Etwas Unwiderstehliches, Irreales. So abweisend das Moor ist, bedeutete es nicht einst Gefahr, hier unterwegs zu sein?, so anziehend ist es auch. Unheimlich, und trotzdem ist man in seinen Bann geschlagen.

Kraninche im Goldenstedter Moor. Foto: Willi Rolfes
Die Sinne sind geschärfter im Moor, man spürt mehr. Foto: Willi Rolfes
Die Sinne sind geschärfter

Wieder diese Melodie – täuschend und irreführend. Zauberei? Die Sinne sind geschärfter und man spürt mehr. Erfahrbar, tief und instinktiv, ja, aber weit jenseits von Erkenntnis, übersinnlich. In das Flüstern des Windes mischen nun andere Töne; zu hören ist ein melodischer Klang, ganz leise und sehr fern. Nach Sehnsucht klingt es, nach Abschied und Aufbruch. Es hört sich an wie Trompeten. Ein helles, hohes und klares „gru-karr“. Es wird lauter und deutlicher, mit seltsamem Nachhall.

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Auch farblich ein Spektakel, Kraniche im Anflug. Foto: Willi Rolfes
Anflug in V-Formation

Kraniche sind im Anflug in der typischen V-förmigen Formation. Von Wildgänsen kann man sie übrigens im Flug daran unterscheiden, dass ihre Beine sichtbar sind und sie, wenn sie die Formation im Flug auflösen, sich scheinbar ziellos in der Luft treiben lassen. Der Wind trägt den Vögeln ihre Rufe voraus. Dann taucht der erste Trupp auf; der Anflug in wellenförmigem Auf und Ab, eine Platzrunde, dann landen sie. Es sind große Vögel, mit rund einem Meter Körperhöhe und gut zwei Metern Spannweite, das Gefieder in hellem Grau. Die Kraniche treffen sich zwischen dem späten Nachmittag und dem Beginn der Dunkelheit auf ihrem Sammelplatz, von dort fliegen sie zu ihren sicheren Schlafplätzen tief im wassersatten Moor. Ins Amphibische, dorthin, wo der Fuchs nicht hinkommt und der Mensch erst recht nicht. Wo der Boden schwankt und schwingt, und das Moor manch arme Seele schnell verschluckt. Wo es nicht mehr trägt und trügerisch ist, tückisch.

Anflug in wellenförmigen Auf und Ab

Nahe dieses Sammelplatzes also kann man Kraniche vom sicheren Grund und genehmigter Stelle gut beobachten – zu hunderten, zu Tausenden, mehr als 20.000 Kraniche wurden schon während einer Zählung verbucht. Oktober und November ist hier Hoch-Zeit, abhängig ist das von der Großwetterlage. Unter niz-goldenstedt.de kann man nachsehen, was die aktuelle Zählung vom jeweils vergangenen Wochenende ergeben hat. Und entscheiden, ob sich ein Besuch nur wegen der Kraniche (noch) lohnt. Ein Erlebnis ist das Moor allemal, gerade in der dunklen Jahreszeit.

Foto Willi Rolfes, Sonnenuntergang im Moor mit Kraninchen.
Sonnenuntergang im Moor, die Kraniche machen sich auf den Weg zur Nachtruhe. Foto: Willi Rolfes

Ein paar Minuten später geht es richtig los: Formation um Formation fliegt ein. Die Kraniche kommen vom Fressen aus der Umgebung. Es flattert, es rauscht, die Luft scheint zu vibrieren. Denn es werden mehr und immer mehr und mehr. Wer kann das noch zählen? Man hat das Gefühl, Schwingungen der Flügelschläge zu spüren. Das ist irre und schön. Gänsehaut jetzt nicht nur wegen der schaurigen Geschichten und der abendlichen Kühle – es ist so beeindruckend wie es unbegreiflich ist. Immer stärker schwillt das Rufen und Trompeten an. Ein Gefühl von Erhabenheit ist es, dies zu beobachten, zu hören, zu sehen, körperlich und geistig zu spüren. Es ist pure Faszination.

Ende der Vorstellung

Noch einmal das Anschwellen des sehnsuchtsvoll klingenden Trompetens, tausende Vögel jetzt und dann scheinen sie vom Himmel zu fallen, dann ist Ende der Vorstellung, die Kraniche landen hinter Büschen. Fliegen bald jedoch erneut auf und verschwinden für diesen Tag irgendwo im Moor. Bilder lösen sich auf wie ein irrer Traum. Ein Käuzchen ruft in die Dunkelheit. Moore sind so morbid, wie sie mystisch und magisch sind. Kraniche übrigens gelten manch alter Kultur als die Vögel des Glücks.

Information:

– Das Naturschutz Informationszentrum NIZ Goldenstedt, das Haus im Moor, befindet sich am Ende einer Stichstraße. Hier gibt es Informationen zum Gebiet, eine Ausstellung und es werden (Kranich-)-Führungen angeboten, Einkehrmöglichkeit. Alle Informationen sowie Termine und Öffnungszeiten auf der Homepage. Zum Beobachten der einfliegenden Kraniche (Oktober und November) muss man nur ein paar hundert Meter vom Parkplatz in Richtung des Moores gehen.                                                                                                                       niz-goldenstedt.de

– Information zur Urlaubsregion Oldenburger Münsterland (und weiteren Moor-Erlebnissen): oldenburger-muensterland.de

– Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.   

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