Von Mario Vedder
Dieppe. Es ist jedes Mal das Gleiche. Und jedes Mal ist es wieder schön. Der erste Blick auf‘s Meer, die Sehnsucht, nach langer Anreise endlich den weiten Horizont zu sehen. Mein Meer für die nächsten Tage ist der Ärmelkanal, das wilde Wasser der Normandie.

Ich bin an der Côte d’Albâtre, der Alabasterküste. Tiefes Durchatmen, als zum langersehnten Blick in die Ferne endlich auch die salzige Luft kommt. Möwen plärren, der Wind ist kräftig und kühl. Ich bin in Dieppe, offiziell dem ersten Seebad Frankreichs, inoffiziell meinem Seelentröster für die nächsten Tage.
Meine Basis ist kein Hotel mit Meerblick, sondern eine Dachkammer im Le Pollet, dem alten Fischerviertel. Und um diesen Ort zu verstehen, muss man wissen: Le Pollet war nie einfach nur ein Teil von Dieppe. Es war eine eigene Welt.
Strand, Steine und das Echo der Geschichte

Ein Abend am Strand, der sich über fast zwei Kilometer erstreckt und nicht aus Sand, sondern aus unzähligen Kieselsteinen besteht. Sie sind Jahrtausende alt, vom Meer bearbeitet, verbessert, zerstört, weiter geschliffen. Das Rauschen der Wellen ist ein hypnotisches Grollen. Diese Steine haben nicht nur das sanfte Spiel der Gezeiten gesehen, sondern auch die Härte der Geschichte. Auf ihnen landeten am 19. August 1942 über 6.000 alliierte Soldaten bei der „Operation Jubilee“. Die blutige Generalprobe für die D-Day-Landung endete in einer Katastrophe.

Heute aber zerfließt die Sonne friedlich im Meer und wirft purpurne Farbe auf die Wolken. Es ist dieses besondere Licht, das schon Maler wie Turner und Monet faszinierte. Und, ich gebe es zu, die Aussicht auf hervorragende Muscheln macht etwas mit dem Menschen.
Auf zu den Brasserien am Quai Henri IV. Moules Frites gibt es hier überall.

Ein Fest für die Sinne: Der Samstagsmarkt von Dieppe
Da heute Samstag ist, gibt es nur ein Ziel: den Markt. Er gilt als einer der schönsten Frankreichs. Vom Pollet überquere ich ein Provisorium neben der historischen Klappbrücke Pont Colbert von 1889, diese wird nämlic gerade restauriert, zu baufällig, zu wichtig, um sie einfach verschwinden zu lassen. Sie ist mehr als nur eine Brücke; sie ist die symbolische Grenze, die das Fischerviertel seit jeher vom bürgerlichen Zentrum trennt. Die alten Polletais nannten die Diepper auf der anderen Seite spöttisch les Caquets (die Schwätzer).

Der Markt auf der Grande Rue ist ein Fest für die Sinne. Hier liegt die ganze Normandie auf den Tischen: Austern, Cidre und natürlich der herzförmige Neufchâtel, einer der ältesten Käse der Region. Ein Stück Käse, Wein und ein Baguette. Das Abendessen ist gesichert.
Heimkehr nach Le Pollet: Im Herzen einer verschworenen Gemeinschaft
Zurück im alten Herzen von Dieppe, bei einbrechender Dämmerung, überquere ich wieder den kleinen Kanal. Ich tauche ein in die Welt von Le Pollet.

Seit dem Mittelalter entwickelte sich hier eine verschworene Gemeinschaft der gens de mer – der Seeleute. Ihre Isolation schuf eine einzigartige Kultur. Sie sprachen das „parler polletais“, einen eigenen Dialekt, der für Außenstehende kaum verständlich war. Er diente als Identitätsmerkmal und Schutzschild. Ein einfaches „Mi, j’vas à la mer“ statt „Moi, je vais à la mer“ markierte sofort die Zugehörigkeit.
Ich schlendere durch die engen Gassen, lasse mich treiben.

Die Architektur ist einzigartig. Die hohen, schmalen Fischerhäuser (maisons de pêcheurs) sind oft mit Kacheln aus braunem Sandstein (grès) und dunklem Feuerstein (silex) verkleidet, manchmal in dekorativen Mustern angeordnet – ein robuster Schutz gegen das raue Klima. In vielen Giebeln oder an Hausecken wachen kleine Madonnenstatuen in ihren Nischen, die Vierges de pignon, als steinerne Schutzengel über das Viertel.
Das Leben hier war matriarchalisch geprägt. Während die Männer wochen- oder monatelang auf See waren (beim Heringsfang oder auf großer Fahrt nach Neufundland), organisierten die Frauen, die Polletaises, das gesamte Leben an Land. Sie verwalteten das Geld, zogen die Kinder auf und verkauften den Fang. Sie waren das Rückgrat dieser Gemeinschaft.

Mein Weg führt mich die Klippe hinauf zur Chapelle Notre-Dame-de-Bon-Secours, dem spirituellen Herzen von Le Pollet. Generationen von Seefahrern sind hier hochgepilgert. Das Innere ist kein prunkvoller Kirchenraum, sondern ein berührendes Museum der Volksfrömmigkeit. Die Wände sind über und über mit kleinen kleinen Marmortafeln bestückt, mit Danksagungen, naiv gemalten Bildern, die Schiffe in Seenot zeigen, aus der die Besatzung wie durch ein Wunder gerettet wurde, und detaillierte Schiffsmodelle, gestiftet aus Dankbarkeit für eine sichere Heimkehr.




Hier oben versteht man die Seele von Le Pollet. Es ist ein Ort, der aus Not und Stolz und einem unbändigen Überlebenswillen geboren wurde. Die Treppenstufen in meine Dachkammer, das Treppenhaus ist eng und knarrt. Der Schlaf kommt schnell, umhüllt vom Geist eines Viertels, das seine raue, ehrliche Identität bis heute bewahrt hat.
Reisetipps & nützliche Links für Ihre Reise nach Dieppe
Allgemeine Infos & Tourismus
- Tourismusbüro Dieppe-Normandie: Die erste Anlaufstelle für Karten, Veranstaltungsinfos und Tipps. Dieppe-Normandie Tourisme
- Beste Reisezeit: Mai bis September für angenehmes Wetter. Der November ist ein Muss für Gourmets wegen des Hering- und Jakobsmuschel-Festivals (Foire aux Harengs et à la Coquille Saint-Jacques).

Sehenswürdigkeiten & Kultur
- Château-Musée de Dieppe: Offizielle Website des Schlossmuseums. Musées de Dieppe
- Mémorial du 19 Août 1942: Gedenkstätte zur Operation Jubilee. Website des Mémorial
- Chapelle Notre-Dame-de-Bon-Secours: Die Seemannskirche ist ein Muss, um die Seele von Le Pollet zu verstehen. Prüfen Sie die Öffnungszeiten, die saisonal unterschiedlich sein können.
Umgebung
- Varengeville-sur-Mer: Künstlerdorf mit der Kirche Saint-Valéry am Klippenrand.
- Veules-les-Roses: Ein malerisches Dorf mit dem kürzesten Fluss Frankreichs, nur eine kurze Autofahrt von Dieppe entfernt.