Von Oliver Abraham
Wiuwert, Provinz Friesland (Niederlande). Längst hat der ewige Wind in der horizontweiten Ebene Frieslands das Laub von den Ästen gefegt, das heisere Krächzen der Krähen weht vorüber und Regenschleppen ziehen vorbei. Zu hören sind die Melodie des Windes, das ferne Blöken der Schafe und heiseres Hundegebell, Gänsegeschnatter und Glockengeläut.
Das Geheimnis der Mumien von Wiuwert
Auf der Warft, dem vor fast tausend Jahren von Menschenhand aufgeschütteten Hügel, steht die Kirche von Wiuwert/Wieuweerd. Keine 300 Einwohner leben hier und südwestlich von Leeuwarden ist das Dorf gelegen, einsam und auf sehr weiter Flur im Norden der Niederlande. Im Wasser eines breiten Grabens spiegelt sich der Turm von Sankt Nicolaas, Wind und Wellen verwerfen das Bild, schließlich löst es sich auf. Lichtflecken jagen übers Land. Hier ist etwas Mysteriöses.
Die Gruft liegt unter der Nicolaaskerk
Im Gotteshaus eine feierliche Stille – und wer weiß schon von diesem Geheimnis in der Gruft, vom Schaurigen im Keller. Kirchenführer Stephan Kurpershoek öffnet die hölzerne Bodenluke zwischen den Kirchenbänken vor dem Choraltar, acht Stufen führen hinab, ein kalter Luftzug weht. Es wird spürbar kühler, riecht allerdings weder muffig noch feucht. Eher nach kaltem Rauch.
Der Luftzug in diesem Keller weht beständig, wegen zweier kleiner Fensteröffnungen in gewiss zwei Meter dicken Wänden. Von oben aus dem Kirchenschiff sind Schritte zu hören, sie klingen fern obwohl es nur ein paar Meter entfernt ist. Hier unten ist eine ganz andere Welt: Eine Katze streicht zwischen Särgen umher. Zwei Glühbirnen werfen ein gelbliches Licht in diesen Keller, von der Decke baumeln drei Vogelmumien im Luftzug –ein Huhn, ein Star, ein Papagei.
Vier Gesichter starren ins Leere
Fünf Särge stehen hier, und eine tote Katze liegt in einer Kiste daneben. Die Katze bekamen sie geschenkt – das Tier wurde einst unter dem Boden eines alten, renovierten Hauses entdeckt.Die Gruft ist eng, die gewölbte Decke niedrig. Sankt Nicolaas ist eine uralte, schöne Kirche, und unvermutet ist das beinahe Rohe und Einfache dieser Gruft, offenbar ohne jeden Pomp wurden Menschen hier einst beigesetzt. Fünf schlichte Särge aus dunklem Holz stehen erhöht auf einem Mauersockel, man sieht beim Hinuntersteigen bereits eine der doodskisten. Ein Sarg ist geschlossen, vier sind offen und mit einer Glasscheibe versiegelt. Vier Gesichter starren ins Leere.
Körper wurden nicht einbalsamiert
Die Haut grau und braun und ledrig, die Augenhöhlen sind leer. Manche Mumien haben keine Zähne mehr im Mund und keine Haare auf dem Kopf, ein Brustkorb ist tief eingefallen. Einer Mumie sind die Hände über die Scham gelegt, ihr Kopf ist nach links geneigt. Alles Fleisch ist längst vergangen, sie sind nur noch Haut und Knochen.
Eine Mumie hat noch ein paar Zähne, und sie hat Staub im Mund. Ihre Arme sind über dem Bauch verschränkt. Sie scheint keinen Hals zu haben, der Kopf liegt auf der Schulter, sie hat sehr lange Beine und ist nur noch eine Hülle. Der Mund liegt schief und offen, wie zu einem stummen Schrei aufgerissen und scheint vom Schmerz verzerrt. Das ist gruselig, und es ist ziemlich selten, dass sich solche Mumien erhalten haben, dass sie zu besichtigen sind. Wie kommt das?
Warum sind die Mumien so gut erhalten?
„In dieser Gruft ist es immer kühl und wegen der zwei Luken, sie liegen sich gegenüber in der rechten und linken Kellerwand, weht hier immer ein Luftzug“, berichtet der Kirchenführer und -koordinatorStephan Kurpershoek.Vermutlich deshalb haben sich die Körper so gut erhalten. Aber: „Es ist und bleibt ein Mysterium! Die konstant niedrige Temperatur und der kontinuierliche Luftstrom zwischen den Fenstern können zwei wichtige Faktoren für die Mumifizierung beziehungsweise für die gute Erhaltung der Körper sein“, erklärt der Kirchenführer.
„Eine exakte wissenschaftliche Erklärung dafür haben wir bis heute nicht, aber mit den mumifizierten Vögeln an der Decke immerhin einen Beleg dafür, dass diese Wirkung bis heute aktiv ist.“ Diese beiden Faktoren können für eine Mumifizierung der Körper sorgen. „Die Vögel wurden in den 1930er-Jahren hier aufgehängt, um den Prozess der Mumifizierung zu überprüfen, ihn nachzustellen, um zu schauen, ob das noch heute so funktioniert – es klappte“, so Kurpershoek.
Die Geschichte der Gruft
Im Jahr 1609 wurde die Krypta unter dem Chor der Kirche für das Adelsgeschlecht der Walta gebaut. 1675 kam eine Gruppe Labadisten auf das Schloss der Walta in Wiuwert. StephanKurpershoek: „Labadisten waren Anhänger einer pietistischen, also einer einfachen und urchristlichen Glaubenslehre. Sie galten zu ihrer Zeit als Sekte, lebten in Kommunen und beteten in Hauskreisen, sie wurden vertrieben und fanden im Schloss der Walta Zuflucht.“ Auch einige von ihnen wurden in der Krypta beigesetzt.
Eine Ruhestätte für Adelige und Labadisten
Die Grabstätte geriet zwar nicht in Vergessenheit, aber sie blieb in Ruhe. „Die Krypta wurde seit 1725 nicht mehr genutzt“, berichtet der Kirchenführer. In diesem Jahr verließen die letzten Labadisten die Burg. Die Waltas hatten da bereits seit fünfzig Jahren nicht mehr auf der Burg gelebt. Nach zehn Jahren begann die Burg zu verfallen und wurde abgerissen. Was überdauerte, waren die Bestatteten:
Die Wiederentdeckung der Mumien
„Die Leute dachten, dass nur Skelette drin wären“, berichtet Stephan Kurpershoek, „die Mumien wurden zufällig entdeckt, weil Zimmerleute neugierig waren.“ Die Handwerker fanden im Jahr 1765 während ihrer Arbeit an der Kirche die gut erhaltenen Körper in der Krypta. Alte Zeichnungen zeigen elf neben- und übereinandergestapelte Särge.
„Die Zimmerleute sollen in Panik davongelaufen sein“, so der Kirchenführer weiter, „denn das Verrückte war, dass sie keine Skelette fanden, sondern Körper, die bekleidet waren und so wirkten als ob sie gerade erst beigesetzt worden wären – die Handwerker haben wohl den Schrecken ihres Lebens bekommen.“
Sieben vorgefundene Leichname wurden damals zur ehemaligen Universität von Franeker gebracht, um sie dort zu untersuchen. „Knochen und Schädel wurden danach zwar wieder nach Wiuwert zurück gebracht, aber einer der beiden Körbe für diesen Transport wurde gestohlen“, erzählt StephanKurpershoek. Der Rest dieser Knochen, und ihrer Kleider auch, ging im Laufe der Zeit ebenfalls verloren – aber vier Mumien haben überdauert und liegen im Keller von Sankt Nicolaas.
Die Mumien heute
Von ehemals elf hier beigesetzten Körpern existieren heute noch vier als Mumien: ein wohl vierzehnjähriges Mädchen, dass um das Jahr 1610 an Tuberkulose gestorben ist, ein Mann, der vermutlich unter Qualen an einer schmerzhaften Kieferentzündung starb, eine Frau, die im hohen Alter eines natürlichen Todes starb und ein Goldschmied namens Stellingswerf, auch er ist vermutlich friedlich entschlafen und wurde als Letzter unter den Verblieben 1705 hier beigesetzt. „Die Körper sind auf natürliche Weise zu Mumien geworden, sie wurden nicht einbalsamiert, sondern sind ausgetrocknet“, erklärt StephanKurpershoek, „… eine Mumie wiegt nur noch rund vier Kilogramm.“
Informationen:
Adresse: Nicolaaskerk, Terp 1, 8637 VH Wiuwert, Niederlande
Der Mumienkeller ist ab Anfang November über den Winter geschlossen, die Wiedereröffnung ist geplant am 1. April 2025, Öffnungszeiten beachten
Eintrittspreise 2025: Kinder drei Euro, Erwachsene vier Euro
Öffnungszeiten 2025: 1. April bis 1. November (11.00-15.00 Apr/Okt/Nov), von Montag bis Samstag, Mai bis September 10.30-16.30 Uhr
www.mummiekelder.nl
Informationen zum Urlaubsziel Friesland:
www.friesland.nl
www.waterlandvanfriesland.nl
Informationen zum Reiseland Niederlande: www.holland.com
Diese Reise wurde unterstützt vom niederländischen Büro für Tourismus.
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