Von Oliver Abraham
Berchtesgaden. Der Pfad zur Schellenberger Eishöhle klemmt zwischen dem steilen Hang und himmelhohen Fels; dieser ist zerklüftet, grau, darin ein riesiges dunkles Loch. Menschen gehen in den gähnendem Abgrund. Statt in leichter, funktionaler Sommerkleidung, nun in Winterklamotten. Schnee ragt hinein. Der Trampelpfad führt über Schnee in den Berg; es wirkt schwindelerregend, so wie der Berg den Schnee, die Leute, den Pfad zu verschlucken scheint in seiner düsteren Tiefe.
Schellenberger Eishöhle auch mitten im Sommer voller Eis
Die Halle, dieser Höhleneingang, ist groß wie eine Kathedrale, darin eine Art Basislager von Wissenschaftlern und Leuten vom Höhlenverein. Der Schnee in diesem Zwischenraum liegt nun im Zwielicht und endet vor einer turmhohen Felswand, am Boden blankes Eis. Aus einer Felsspalte fließt ein Eisfall. Eisblöcke in opalem Weiß und groß wie Schränke liegen vor ockerfarbenem Stein. Im Gänsemarsch geht es auf Laufbrettern über eine spiegelglatte Eisfläche. Trümmer aus Eis liegen herum, wo was fallen könnte, ist abgesperrt, aber Eis ist überall. Zapfen aus Eis, meterlang, hängen an der Decke oder sind abgebrochen.
Vom schwülen Sommerwetter zu Eiskälte
Es ist eine Welt, die unbegreiflich ist – hier gefällig geformtes Eis in magischem Blau, dort schroffer Stein in den Farben von Rost und Rot. Nebeneinander, miteinander. Und was für ein Kontrast: Beim Aufstieg in den Untersberg rollte Donner über‘s Tal, schwülwarme Luft ließ schwitzen, hier dampft der Körper nun in Eiseskälte. In einem Berg, wo auch im Sommer immer Eis ist. In einer Eishöhle in den Alpen.
Größte erschlossene Eishöhle Deutschlands
Die Schellenberger Eishöhle nahe Berchtesgaden ist die größte erschlossene Eishöhle in Deutschland. Sie liegt in den Klüften und Höhlen eines Bergmassivs aus Kalkstein auf rund 1.600 Meter Höhe, in der Höhle befinden sich geschätzte 60.000 Kubikmeter Eis, die Temperaturen schwanken darin im Sommer zwischen minus 0,5°C und plus 1,5°C. Eishöhlen sind wundersame Orte – im Zuge klimatischer Begebenheiten hat sich in einer Höhle im Fels Eis gebildet, und tut es noch immer, dieses Eis überdauert den Sommer. Hier und auch anderswo in den Alpen.
Eis dominiert den Raum
Der Winterwind hat Schnee weit in den Höhleneingang geweht, hier sitzen Forscher und hantieren mit ihrer Ausrüstung, vorher schon trifft der Besucher auf seinen Höhlenführer und bekommt den Helm samt Stirnlampe. Das Eis dominiert bereits diesen Raum, hat sich mit einem Eisfall an eine Treppe herangearbeitet. Eis ist in Bewegung und immer in Veränderung, Eis ist nicht statisch, obwohl es so wirkt. Das Eis hier am Höhleneingang ist bis zu dreißig Meter mächtig. Luftströme halten dieses Eis immerhin ein wenig im Zaum, doch helfen tut das nicht: Treppen und Leitern müssen jedes Jahr abgebaut und im kommenden Jahr neu errichtet werden.
Immer in Bewegung
Das Eis ist in Bewegung wie ein Gletscher, wächst, und würde die Einrichtung zerdrücken. Eine alte Holzleiter ist vom Eis schon umschlossen, und Treppenstufen schneiden die Leute hier jedes Jahr neu ins Eis. Der Höhlenführer zündet eine Karbidlampe an, das riecht immer ein wenig nach Knoblauch, und zusammen mit dem Eishauch ergibt das ein sonderbares Aroma.
Jahresringe im Eis
Das Licht der Lampen trifft auf Wände, die aus Eis bestehen. Dort, wo es in Schichten liegt, kann man Jahresringe wie bei Bäumen erkennen – mal dick und mal dünn, mal klar und mal trüb. Wie kommt so was? Kalte Luft ist schwerer als warme. Besitzt eine Höhle einen hohen Eingang, kann die kalte Luft im Winter dort in die Höhle sacken und beim Durchfließen dieser die warme Luft nach draußen verdrängen. Am Boden fließt die kalte Luft nach unten, an der Höhlendecke strömt die warme nach oben. Wichtig ist, dass die kalte Luft unten nicht abfließen kann, es muss sich innerhalb der Höhle ein See aus Kaltluft bilden, damit sich die Temperatur auch im Sommer kaum mehr als anderthalb Grad über dem Gefrierpunkt erwärmt. Dann kann eindringendes Wasser die meiste Zeit, an manchen, an vielen Stellen zu Eis gefrieren. Über die Jahrhunderte, Jahrtausende.
Eiszapfen begleiten den Abstieg
Die Wendeltreppe führt entlang eines Eisfalls ins unergründlich Dunkle, die Stirnlampe erhellt immer nur einen Ausschnitt, offenbart lediglich eine Momentaufnahme dieser bizarren Welt. Dünne, sehr lange Eiszapfen begleiten den Abstieg in diese Anderswelt. Die Treppe endet in einem Tunnel aus Eis. Licht geistert über die Gefrornis, Reflexe glitzern und blitzen auf phantastischen Formationen und Figuren. Und immer nur für einen Augenblick, es ist unbegreiflich – abzusteigen aus dem hellen Sommertag in dieses Eis im Bauch der Berge. Faszinierend ist es allemal, auch wenn man anfangs nicht weiß, wohin man schauen soll. Was aufnehmen, wie begreifen?
Eis kommt von allen Seiten
Am Ende der Treppe fällt der Blick zurück, hinauf zur Felsendecke des Höhleneingangs: Eis kommt von allen Seiten und von oben auch, von überall und allumfassend. Er wirkt, als ob uns das Eis verschlingt, und so, als ob wir in diese Welt aus Eis gefallen sind. Der Verstand kommt noch nicht mit. An der eisigen Höhlendecke funkelt es weiß, aber auch das schöne, mystische Eisblau ist zu sehen. Eine nächste Treppe führt weiter runter und vorbei an einer Wand aus schierem Eis. Ein Gang endet unvermittelt vor dem Eis, durchsichtig, wie ein Fenster. Sind es Trugbilder – oder kann man hinter dem Eis den Fortgang der Höhle mit Geröllhalden erkennen?
Im Frühjahr bildet sich das meiste Eis
Das Eis in dieser Höhle beginnt im Herbst zu wachsen. Nach den ersten Nachtfrösten sinkt die Temperatur in der Schellenberger Eishöhle wieder dauerhaft unter Null und das eindringende Grundwasser kann gefrieren. Im Winter aber hört das Eiswachstum auf. Jetzt ist es überall zu kalt, denn das für das Eiswachstum im Inneren der Höhle notwendige Sickerwasser ist auch gefroren beziehungsweise nun fällt Schnee. Das meiste Eis in der Höhle bildet sich im Frühjahr. Die Höhle ist über den Winter ausgekühlt und mit dem Tauwetter und der Schneeschmelze beginnt viel kaltes Wasser einzusickern – ideale Voraussetzungen. Dann stoppt der Prozess der Eisbildung abermals. Das einfließende Wasser erwärmt manche Bereiche der Höhle – nur knapp auf Plus zwar, aber trotzdem ausreichend, um die Bildung von Eis örtlich und temporär zu unterbinden. Bis im Herbst der Zyklus wieder beginnt.
Spannend im Frühjahr, wieviel Eis hat sich gebildet?
Für die Leute vom Höhlenverein und die Wissenschaftler ist der Tag im Frühjahr, wenn sie die Höhle erstmals im Jahr wieder betreten, ein spannender Moment. Wieviel Eis hat sich gebildet? Es geht weiter: Dieser Gang ist links mit einem Halbrund aus Eis begrenzt, rechts steht eine grade Wand aus Fels, mächtige Eiszapfen hängen daran, und anderswo sind sie so zart wie eine Gardine. Dann geht es weiter hinab ins Dunkle. Es ist und bleibt geheimnisvoll. Der Weg hinab führt auf Gummimatten. An der Wand ein vollkommen klarer und erstarrter Wasserlauf, der aus dem Fels … ja – was, zu fließen scheint? Tut er nicht, das ist fest und sieht aus wie vom Fotoblitz fixiert. Man möchte das anfassen, um zu begreifen. Und kann es trotzdem kaum verstehen.
Tausende Eiskristalle funkeln im Schein der Lampe
Nach einer Kammer, der Boden mit Eis bedeckt, folgt der Pfad einem Fluss aus Eis. Auch die Treppe hier ist arg vom Eis bedrängt. Alte Bohlen aus schwarzem Holz sind aus dem knietiefen Eis frei gesägt. Und was da am Ende eines Gangs aussieht wie die Baustelle eines Iglu-Dorfes, sind die ausgesägten Teile vom Bau der Stufen. Hier sieht der Fels aus wie von Raureif überzuckert, dort ist er von glasklarem Eis umschlossen und erscheint wie lackiert. Dann fällt das Licht auf eine Kaskade aus Eis, die im Sturz erstarrt ist, bald auf bizarre Skulpturen. Eis ist überall, wohin Wasser fließen kann. In einer Felsspalte funkeln tausende Eiskristalle im Schein der Höhlenforscher Lampe. An der Decke funkeln sie wie Sterne, nur, dass das Firmament aus Eis besteht, das vor dem Fels schwarz erscheint. Anderswo schimmert Eis wie Edelstein, wie ein Saphir oder ein Aquamarin, in magischem Blau. Tief im Berg. Wo das Eis ist.
Weiter Informationen:
Die Schellenberger Eishöhle liegt (in Deutschland) zwischen Berchtesgaden und Salzburg, oberhalb des Ortes Marktschellenberg. Der Anstieg (ca. 2.5 Stunden bis 3,5 Stunden auf ausgebautem Weg zur Toni-Lenz-Hütte, ab dort weitere 20 Minuten zum Höhleneingang) erfordert Kondition. Zugang gibt es auch von Österreich, z.B. Teilstrecke mit der Bergbahn. Infos zur Höhle und Führungen unter eishoehle.net
Eine Auswahl weiterer Eishöhlen in den Alpen: Eisriesenwelt im Salzburger Land/Österreich (eisriesenwelt.at), Rieseneishöhle im Dachsteinmassiv/Österreich (dachstein-salzkammergut.com), Hundalm-Eishöhle in Tirol/Österreich (tirol-infos.at/kufstein/hundalm-eishoehle)
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Diese Reise wurde unterstützt von Berchtesgadener Land Tourismus und Bayern Tourismus.
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