Von Oliver Abraham
Büsum. Das Watt liegt in eisiger Endlosigkeit, Graupel weht vorbei und knistert an der Kapuze. Es ist drei Stunden vor Niedrigwasser, und im Watt liegen statt Sandbänken solche aus Schnee. Schlieren von Gefrorenem wehen wie dunkle Gardinen über die Nordsee und eine Böe lässt es prasseln.
Winter im Büsumer Watt
Nationalpark-Wattführer Johann-Peter „Jan“ Franzen sucht den Einstieg auf den Meeresboden nördlich von Büsum. Eine Wattwanderung im Winter? Warum nicht. Gute drei Stunden wird er nun mit seinen Gästen draußen unterwegs sein, hinterher gibt´s zum Aufwärmen leckeren Grünkohl. Den hat er für seine Gruppe in einem gemütlichen Gasthaus vorbestellt.
Grauer Winterhimmel über dem Watt
Frischer Wind aus Südwest, abnehmende Schauer immerhin, das meldet der Wetterbericht, Temperaturen um Null Grad. Es geht los an der Badestelle Stinteck. „Direkt vor der Küste liegt hier ein dicker Priel, da müssen wir durch“, sagt Jan Franzen. Eis knirscht unter den Stiefeln und einsam, verlassen ducken sich die Küste und das Watt Dithmarschens unter den grauen Winterhimmel.
Eisgries, Schnee und Priele
Das Wasser ist inzwischen tief genug abgelaufen und Jan Franzen führt die Gruppe durch den Priel, durch die Stiefel spürt man den unheimlichen Sog, mit dem das Wasser der Nordsee hinterher eilt. Unterwegs nun in einem großen Grau, einem endlosen Raum, die weiten, weißen Schneeflächen auf dem Watt in Küstennähe schimmern magisch. Dort, wo das Wasser auf- und abläuft, liegt der feste Meeresboden frei; dort, wo es bei Flut zur Ruhe kommt, hat es den Eisgries bisweilen hüfthoch zusammengeschoben, obendrauf liegt Schnee. Sich von der Kante zu lösen und hinaus zu gehen in diese Weite und das Unbekannte, dorthin, wo die Veränderung das einzig Beständige ist und das Feste sich verliert, ist immer auch ein psychischer Moment.
Eine Fläche ohne Anfang und Ende
Man muss loslassen können und Vertrauen fassen. Das Auge findet keinen Halt mehr auf dieser Fläche ohne Anfang und ohne Ende. Reißt das Diesige auf für einen Moment, ist immerhin der Horizont zu erkennen, der Deich – das Land! – ist im Dunst verschwunden. Skepsis weicht stiller Faszination. Und der Kopf wird freier mit jedem Schritt. Es ist auch ein tiefes Durchatmen, eine Erfrischung für Körper und Geist. Gut zu wissen, dass Wattführer Franzen die Veranstaltung per Seefunk angemeldet hat – auf dem in Büsum liegenden Rettungskreuzer „Theodor Storm“ sowie dem Büsumer Sperrwerk „Büsum-Port“.
„Büsum Port bitte kommen – Moin. Hier Wattführer Eins. Ich gehe jetzt mit acht Leuten erst Richtung Scholl-Loch und dann Richtung Ossengot, Rückkehr in ungefähr drei Stunden. Gute Wache.“
Im Rucksack hat er Kompass und Signalpistole, ein Seil, an dem sich alle Teilnehmer anbinden müssen, sollte sich plötzlich dicker Seenebel bilden. Damit keiner verloren geht. Glaube niemand, man könne mal einfach so ins Watt. Wir wollen ein paar Stunden im winterlichen Watt gehen, Einsamkeit erleben und genießen, Jan Franzen zuhören, was er zu berichten weiß, und schauen, was er uns zeigen wird. Der Schnee und das Eis sind eine hübsche Zugabe, dafür wird Zeit sein am Ende der Tour.
„Scholl-Loch und Ossengot sind große Priele, also Flüsse auf dem Meeresboden, durch die Ebbe und Flut strömen“, erklärt Jan Franzen. Hier und heute sind sie die Grenze der Exkursion, denn die Gummistiefel reichen nur bis zu den Knien. Der bei Niedrigwasser freifallende Meeresboden reicht noch viele Kilometer weiter in den Westen. Jan Franzen, ein freundlicher, großer Mann und mit mehr als dreißig Jahren Erfahrung als Wattführer kenntnisreich und kompetent, ist ebenso besonnen wie bestimmt; man folgt ihm gern und sorgenfrei hinaus in diese seltsame Welt, in der Zeit und Raum alsbald wie aufgehoben wirken. Kurs und Zeit hat der Wattführer im Blick, und die Leute haben endgültig den Abstand zum Alltag gewonnen.
„Wie weit wir heute hinausgehen und wohin wir kommen, kann ich noch nicht sagen.“
Jan Franzen, schaut auf den Kompass und geht Kurs Südwest, „..wir hatten vor ein paar Tagen eine Sturmflut, das Watt verändert sich ständig. Auch bei jedem normalen Hochwasser. Wie tief auch nur die kleinen Priele sind, die wir auf unserer heutigen Tour queren müssen, kann ich nicht sagen. Das weiß ich, wenn wir davor stehen.“
Sicherer Zeitpuffer vor Niedrigwasser
Auch das macht eine solche Tour spannend. Da die Wattführung mit einem sicheren Zeitpuffer vor Niedrigwasser begonnen hat, das Wasser somit bis dahin immer niedriger fällt, kann ein Priel, der bis dahin durchschritten wurde, auch sicher wieder zurück gequert werden. Aber eben nur bis zum Zeitpunkt des Kippens der Ebbe. „Deshalb müssen wir jetzt Strecke machen!“ Mahnt Jan Franzen und geht langsam Schritt für Schritt in einen Priel, das passt, Eis schwimmt auf dem Wasser.
Es ist vollkommen still. Weit weg vom Rest der Welt und in dem guten Wissen, dass man es kann, einsam und doch in guter Gruppe Gleichgesinnter aufgehoben, losgelöst und die Gegend reduziert auf das Rohe – es ist ein sonderbares, wenn auch nicht mulmiges Gefühl; es ist vielmehr schaurig schön. Dort unterwegs zu sein, wo der Mensch eigentlich nicht hingehört.
Einst war hier festes Land
Hier war übrigens, Jan Franzen berichtet es, einst festes Land, Viehweide und Lebensraum, bis zwei mörderische Orkanfluten – die großen „Mandränken“ – es im 14. und 17. Jahrhundert ertrinken ließen. „Wir stehen hier am Ossengot, der ehemaligen Ochsentränke, und damit an der tiefsten Stelle auf unserer Tour“, sagt Franzen und hebt seine Grabforke hoch, „so hoch, drei Meter höher als jetzt, steht hier bald wieder das Wasser.“ Längst führt er die Gruppe gen Nord, schwenkt die Route schon nach Ost, zurück also in Richtung Küste, die Flut bald hintendran. Wir müssen, aller Neugier und Erlebniswunsch zum Trotz, zurück.
Ein Mischung aus Eisgries und Schnee
Je näher man der Küste kommt, desto mehr Eisgrieß und Schnee sind zusammengeschoben. Das Watt weiter draußen ist in der Regel frei davon. Nun also tauchen wieder mehr weiße Flächen auf. Die flachen, noch trockenen, Priele – schon in Sichtweite des Deiches – erlauben ein Hineingehen in diese bizarre Welt. Sie werden kleiner und verästeln sich immer weiter, der Schnee an ihren Ufern wird immer tiefer.
Bald enden die Priele und Jan Franzen steht vor einer Barriere aus zusammengeschobenem Eisgrieß und Schnee. Wir treten hinein, gehen hinauf; zuerst trägt es, dann sinken wir ein bis zu den Knien, bis zur Hüfte. Hier zu gehen ist beschwerlich. Gewiss sind es die anstrengendsten hundert, zweihundert Meter auf dieser Tour. Aber es sind die, die man gewiss nie mehr vergessen wird. Es sieht aus wie in der Arktis, ist aber kurz vor Büsum. Nun ist, sicher unter Land, Zeit und Muße, dieses seltene Naturschauspiel zu genießen. Im Schnee auf dem Meeresboden. Wie ein Entdecker einem anderen Priel zu folgen, wieder vor einer Schneebank zu stehen, freilich unter dem wachsamen Blick des Wattführers.
Gemeinsame Einkehr beim Grünkohlessen
Ein paar Schritte noch durch dieses Eismeer, ein paar letzte Augenblicke im Schnee auf dem Nordseegrund. Jan Franzen meldet uns per Telefon bei der Seenotrettung wohlbehalten zurück. Und im Restaurant zum Grünkohlessen an. Was macht eine Wattwanderung im Winter eigentlich zu einem so besonderen Erlebnis? Neben dieser Freiheit und dem Grenzenlosen, neben Zeit und Muße, die nun ist, neben dem Prickeln im Gesicht und der Gänsehaut, die nicht der Temperatur allein geschuldet ist. „Das“, meint Jan Franzen – und er freut sich wie alle anderen auf den leckeren Grünkohl und die gemeinsame Einkehr, „…das ist doch auch das Behagliche und Gemütliche hinterher, dann, nach solchen Erlebnissen, ist das Aufwärmen nochmal so schön.“
– Infos und Termine zu den winterlichen Wattwanderungen mit Grünkohlessen und andere Exkursionen mit Nationalpark-Wattführer Jan Franzen unter reiseservice-franzen.de
– Diese Reise wurde unterstützt von Nordsee Tourismus Service. Unter nordseetourismus.de auch weitere Ideen für einen Winterurlaub an der Nordsee Schleswig-Holsteins und viele Informationen zur Urlaubsregion
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