Von Oliver Abraham
Yorkshire, England. Der Geruch nach Kohlenfeuer liegt in der Luft und der Sturm heult durch die Gassen, vorn an der See tobt er und schubst die letzten Leute vor sich her. Das Meer ist weiß und wütend. Wer ein Zuhause hat oder eine Kneipe kennt, der sitzt jetzt drinnen, trocken und warm. Sandsäcke werden vor die Tür gelegt, die Nordsee rollt an. Mit mächtigem, gewaltigem Meeresrauschen. Irgendwann enden alle Gassen unten an der See. Es dämmert und aus den Fenstern fließt warmes Licht.
In Robin Hood´s Bay sieht das Setting aus wie in einem Piratenfilm.
Der Ort liegt an Englands Ostküste, in Yorkshire. Nur an wenigen Stellen gibt es hier Siedlungen an der See, die Küste ist steil und schroff. Abgelegen sind diese Orte, verloren wirken sie, vor allem an einem Abend wie diesem. Ob Robin Hood hier jemals war? Es ist mehr als ungewiss, wahrscheinlich nicht.
Bay Town hieß dieses alte Fischernest bei den Einheimischen, eine holländische Seekarte aus dem 17. Jahrhundert verbucht hier einen Ort namens Romenhooft Bay. Man spürt die Brecher, hört sie donnern, schmeckt das Salz der Gischt. Eine Aura des Mysteriösen umgibt den Ort bis heute. Der Ort ist verschachtelt, Haus an Haus, die Gassen winden sich hindurch und beinahe wirken sie wie ein Bergpfad, ähnlich steil und eng sind sie. Wie ein Nest auf der Klippe über tobender See ein Teil des Dorfes, das andere eben unten, dort, wo die Nordsee im Anmarsch ist. Brecher rauschen auf den Slipway vor dem Pub, ein Boot steht auf dem Anhänger, rasch noch hochgezogen und – hoffentlich – in Sicherheit gebracht.
Drinnen in der Kneipe sind die Leute geborgen, manchmal schaut einer raus. Vor dem Laden liegt Feuerholz, in der Auslage Obst und Gemüse, und daran, das Robin Hood´s Bay nicht völlig aus der Zeit gefallen ist, erinnert buntes Kinderspielzeug aus Plastik. Blumen vor den Fenstern trotzen Wind und Wetter, die weißen Spitzengardinen dahinter sind zugezogen. In den leeren Gassen hallen die Schritte. In einem Schaufenster schimmern Steine im Schmuck schwarz und geheimnisvoll.
Die Flut kommt hoch und die Brecher krachen an die Mauern von Robin Hood´s Bay, die Fenster der Häuser an der Front wirken wie Schießscharten. Kein Robin Hood, aber doch eine Menge Legenden: Ein Schmugglernest war dieser Ort, das zumindest berichten die Sagen über Robin Hood´s Bay.
Wandern im englischen Yorkshire
Im 18. Jahrhundert blühte der Handel mit der Konterbande im Verborgenen – ein abgelegener Ort an der Küste, eine verschworene Gemeinschaft, tausend Möglichkeiten die heiße Ware zu verstecken, verschwiegene Wege durchs menschenleere Hinterland zu den Abnehmern. Die Obrigkeit: weit weg, und wenn sie kam, dann sah man sie kommen schon von weitem. Das waren ideale Voraussetzungen für schwunghaften Handel ohne Abgaben. Tee, Tabak und Schnaps, solche Sachen. In den Pubs verhökert, durch die Keller verschoben. Auch Seide. Einen Ballen Seide, so sagt man, konnte man aufs Oberland schaffen, ohne dass der Stoff ans Tageslicht kam. Durch ein unterirdisches Netzwerk an Stollen und Tunneln, noch heute solle man so von Keller zu Keller kommen.
Nur Thekentratsch? Wer weiß.
Am kommenden Morgen hat sich die See beruhigt, auch dieser Sturm zog weiter. Und den Wanderer zieht es hinaus auf den Küstenpfad, dem Cleveland Way, einem ausgezeichneten und auch ins Hinterland führenden Wanderweg. Nach Norden Richtung Whitby, einer schmucken, etwas größeren Küstenstadt. Schnell gewinnt der Pfad an Höhe, bis fast hundert Meter hoch wacht die Steilküste hier über der Nordsee. Im Osten liegt eine blaue See unter einem ebenso blauen und klaren Himmel, das Land im Westen hingegen, die North York Moors, ducken sich unter schweren, dunklen Wolken und scheinen im Regen zu ertrinken.
Noch liegen weite Teile des Meeresbodens frei, zumeist schierer Fels, und es ist eine Reduktion auf das Rohe, ein Schwarz-Weiß-Bild, Wasser und Stein in ewiger Umarmung. Wasser und Stein auch hier oben: verwitterte Mauern begrenzen die Schafweiden, der stramme Wind von der See verweht die kleinen Wasserfälle und treibt die Gischt über das Land.Ein heiterer Sonne-Wolken-Mix im Himmel und auch die Schreie der Möwen, es riecht nach der See und nach Schafen. Vor der gewaltigen Wand der Steilküste läuft die Bucht allmählich voll. Felsnadeln stehen inzwischen in einer kochenden Brandung. Flächen aus Fels liegen wie glatt poliert in dieser Zwischenwelt, die bald schon wieder überflutet wird, vor der Steilküste Felsbrocken in wildem Durcheinander, zu erkennen sind große Metallteile, wohl Reste von Schiffswracks. Nicht wenigen Schiffen und Seeleuten wurde diese Küste zum Verhängnis.
Es ist ein Weg mit Aussicht, ein Küstenpfad zum Wandern wie aus einem Bilderbuch. Die Strecke passiert Viehgatter und verläuft an kargem, kratzigem Gebüsch, der Ginster blüht gelb, und strahlt mit dem Gras in grellen Farben, wenn das gleißende Licht den Abschnitt in Szene setzt. Auf einem Wegweiser steckt ein pinkfarbener, glitzerner Gummistiefel. Die rasenden Bäche sind bis zur Oberkante voll, wenige Meter weiter stürzen sie ins Bodenlose. Dann wird der Weg verwunschen und führt über ausgetretene Stufen und unter dichtem, vom ewigen Wind verbogenen Gebüsch hinab in das Tal eines kleinen Flusses.
Bald ist ein altes Haus erreicht. Über dem Dach eines Anbaus liegt ein riesiges Nebelhorn, eine große schwarze Tröte und es hat den Anschein, als ob man damit direkt rüber rufen könnte zu den Nordfriesischen Inseln, gelegen gute 570 Kilometer weiter östlich. Mit diesen Signalposten versuchten die Leute in den beiden vergangenen Jahrhunderten die Küste wenigstens ein bisschen sicherer zu machen. Denn im Nebel sieht man die Führlichter der Leuchttürme nicht. Was ist, wenn das Ding noch funktioniert und gerade jetzt losgellt? Der Weg führt um dieses Haus herum. Es wirkt grotesk und von See her ziehen erneut schwere, dunkle Wolken auf. In dicker, kompakter Bank und recht rasch dazu.
Es ist Nachmittag geworden und vor dem vergehenden Licht erheben sich düstere Ruinen. Wieder wirkt es vollkommen aus der Zeit gefallen. Es ist ein uralter Ort, schon in der Bronzezeit hielten sich hier Leute auf; der Ort hat Aura! Eine Treppe führt zu den Ruinen der Whitby Abbey. Krähen und Möwen schreien, ein Schiffshorn ist von See zu hören, und das Wispern, Heulen und Jaulen des Windes in den Trümmern uralter Geschichte. König Oswiu von Northhumbria (damals gab es sieben Kleinkönigreiche dort, wo heute England ist) gründete im 7. Jahrhundert nach Christus dieses Kloster. Äbtissin Hilda, auch Anhängerin keltischer Riten, führte es und machte es ob der hohen Bildung, die hier vermittelt wurde, weithin bekannt. Im Jahr 664 wurde hier eine bedeutende Kirchenversammlung abgehalten, Whitby Abbey war eines der wichtigsten religiösen Zentren der Angelsächsischen Welt.
Als Hilda starb, folgten zwei dunkle Jahrhunderte, aus denen nichts bekannt ist.
Ins Gespräch und die Geschichtsbücher brachten schließlich die Dänen Whitby Abbey und diese Gegend wieder – sie überfielen es. Viel übrig blieb nicht. Im Jahr 1077 wurde das Kloster neu gegründet, um 1200 mit umfangreichen Baumaßnahmen begonnen, im 16. Jahrhundert wurde Whitby Abbey aufgegeben und verfiel. Ruinen von Kirche, Chor und Querschiff haben die Zeiten überdauert, die Fassade wurde zu Beginn des 20. Jahrhundert originalgetreu rekonstruiert. Die sichtbaren Relikte stammen aus dem 13. und 14. Jhd. Sind die meisten Besucher fort und beginnt es zu dämmern, ist dies auch ein Ort der Phantasie – heulender Wind und schriller Vogelschrei, Mystik und Magie.
Der Tag geht endgültig zur Neige und Düsternis legt sich über das Land.
Die Flut ist aufgelaufen und es scheint, als ob die See Dunst, Nebel und Kühle mitgebracht hat. Der Wind weht den Klang der Glocken von St. Mary vorüber. Orientierung ist das und verspricht Geborgenheit an sicherem Ort. Doch es klingt auch einsam und verstärkt die verlorene Stimmung hier draußen. Schließlich mündet der Wanderweg in eine steile Treppe. Der Geruch nach Kohlenfeuer vermischt sich mit eiskaltem, feuchtem Windhauch. Das Wegepflaster ist glatt, Whitby ist in Sicht, der Hafen und ein Kai, und ein wenig fühlt es sich so an, als ob man selbst von offener See her einläuft. Aus den Elementen ins Aufgehobensein. Erste Straßenlaternen flammen auf und heimeliges Licht fließt aus den Fenstern der Häuser, Pubs und kleinen Geschäfte.
Auch die alten Häuser von Whitby ähneln einer Berglandschaft, wie ein steinernes Nest mit Licht, das sich zwischen Fels und Meer krallt. Manche Wände sind in pastellenen Farben gestrichen; pistazie, taubenblau, rosa. Ein starker Kontrast zum puren Erdfarbenen und Wildromantischen des gegangenen Weges. Es ist ein Ankommen, ein Gefühl von Geborgenheit, Whitby scheint den Wanderer aufzunehmen; enge Gassen, hohe Fassaden, einladende Läden. Und wieder Kontraste: Was in einem Schaufenster aussieht wie die Auslage eines Candy-Shops, sind die feinen Kreationen einer Seifen-Manufaktur – Figuren eines zarten Schmetterlings und magisch, blau schimmernde Stücke unter einem Kronleuchter. Hier unterwegs zu sein, ist manches Mal überraschend. Es ist dunkel geworden, und auf regennassem Straßenpflaster spiegelt sich das Licht von Lampen und Laternen.
Eine schmale Gasse, kaum schulterbreit und düster nicht allein wegen der Dunkelheit, führt an das Hafenbecken. Eine Katze huscht vorbei und zu hören ist das leise Schwappen des Wassers. Geheimnisvoll und auch dieser Ort wirkt wie die Bühne eines Piratenfilms. An der Kante stehen die Hummerkörbe gestapelt und das allerletzte Licht des Tages spiegelt sich rosa auf schwarzem Wasser, das wie Öl aussieht. Und auch die verlockenden Lichter des Pubs von gegenüber. Jetzt aber wirklich ankommen und endlich einkehren. Dort, wo vielleicht wärmendes Feuer brennt.
- Diese Reise nach Yorkshire in England wurde unterstützt vom Britischen Fremdenverkehrsamt Visit Britain (visitbritain.com). Informationen zum Wanderweg Cleveland Way: nationaltrail.co.uk/de_DE/trails/cleveland-way
- Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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