Von Oliver Abraham
Werden wir den Einstieg finden oder hat ein Schneesturm ihn vielleicht zugeweht? Am Fuße des Zinal Gletschers im Val d´Anniviers gibt es Höhlen im Eis. Dort müssen wir hin, die müssen wir finden.
„Die Dimensionen sind gewaltig.“
Ferne Gipfel stolzer Viertausender auf großartiger Bühne im Kanton Wallis/Schweiz. Sie ragen am fernen Horizont auf über einer vom Wind leergefegten Fläche; eisige und offene Endlosigkeit. Schnee seit Stunden, tiefer Schnee und mitunter meterhoch, daran haben wir uns gewöhnt. Im Gänsemarsch auch vorbei an tiefen Bachtälern, die Tour mit den Schneeschuhen ist fordernd und anstrengend, aber sie ist gut machbar auch für Ungeübte mit etwas Kondition. Der Wanderleiter vorneweg – er kennt die Strecke und sucht den Weg. Aber das hier? Das ist eine endgültig andere Welt.
Elementare Erfahrungen im Zinaltal
Die Gruppe verschwindet hinter einem Hügel, aus der überirdisch gleißenden Helligkeit in seltsames Zwielicht.
„Nur Blau, nur Weiß, nur ohne Ende Einsamkeit. Kopf und Körper sind klar.“
Wie heruntergedimmt zum Abstieg in die Unterwelt. In der Gleichförmigkeit der Schneefläche ist eine winzige Unebenheit zu erkennen, ein kleines bisschen anders sieht es aus, der Blick bleibt automatisch hängen. Dorthin geht es und bald sieht diese Verwerfung aus wie ein seltsames Augenlid, ein schmaler Schlitz im Schnee – oben eisgrau, bald türkis, darin verliert sich der Blick im Dunkel.
Interessant
Winzig sah es aus und immer größer wird es. Hier oben sind, auch ob der maßlosen Dimensionen, die Verhältnismäßigkeiten abhandengekommen: Entfernungen werden nicht mehr richtig eingeschätzt, Größen sind nicht mehr zuordbar.
Die Wanderer wirken vollkommen verloren in dieser Einöde aus Eis und Schnee, die erstarrt und leblos wie unmittelbar unter dem Weltraum liegt. Als die ersten Leute vor dem Eingang stehen, durch unberührten Schnee die letzte Meter geschafft haben, tun sie das vor einer riesigen Öffnung. Wo doch der Spalt kaum zu erkennen war, gähnt nun ein gewaltiges Loch. Und ein blaues Wunder werden wir erleben.
Vorfreude
Ein letzter geschwungener Schneehang liegt vor der ovalen dunklen Öffnung. Wir machen eine Pause und blicken nach vorn, schauen zurück. Wir haben es geschafft, wir haben es gefunden, nun wollen wir auch hinein. Der Eingang in die eisige Unterwelt, in den Zinal Gletscher, wirkt verlockend. Längst ist die Entdeckerlust entfacht. Aber Sicherheit geht vor, und der Wanderleiter schaut sich die Situation an, kontrolliert gewissenhaft. Bis er die Leute nach und nach bittet, vorsichtig!, hineinzukommen, hinabzusteigen. Der Mensch ist nur noch Miniatur.
Spannender Höhepunkt am Zinal Gletscher
Am Eingang der Höhle rieselt Schnee, lautlos und glitzernd, es ist still. Windstill auch, eine totale Ruhe. Nach ein paar Minuten des Innehaltens hört auch das Keuchen auf, wir sammeln uns, auch innerlich. Gute zweieinhalb Stunden waren wir vom Dorf Zinal auf Schneeschuhen unterwegs zum Gletscher. Nun der Abstieg, das Ziel: Schritt für Schritt gehen wir in das Eis.
„Bilder in azur und aquamarin, in kristallener Klarheit.“
Stumm und staunend sind wir, voller Vorsicht und mit Ehrfurcht und so, als wolle man dieses Schöne, Perfekte und Unberührte nicht stören. Und sei es nur durch Anwesenheit. Erste zaghafte Schritte. Der Abhang führt hinunter in die Grotte. Dort, wo der Eisstrom des Zinal-Gletschers nach Vereinigung mit weiteren Eisströmen nach sieben Kilometern zu Ende geht.
Blau in allen Nuancen
Die Augen gewöhnen sich an das Dämmerige. Über Schnee geht es in die Höhle hinab, Blöcke aus Eis groß wie Schränke liegen bald herum, weiter unten ist der Schnee – oder ist es Eisstaub? – fein wie ein Puder. Atemwolken stehen vor den Gesichtern der Leute, sie staunen still. Was wollte man schon sagen – es ist unfassbar und überwältigend. Eis in allen Nuancen Blau, für die man Namen noch erfinden möchte. Ein Feenschloss, eine Märchenwelt. Eine stille Symphonie von Form und Farbe in völliger Harmonie. Geheimnisvoll ist es, und wie ein seltsamer Traum fühlt es sich an.
Sakrale Atmosphäre
Freigefräst und geformt vom Schmelzwasser des Zinal Gletschers hat sich in seinem Eis eine Höhle gebildet. Friert es hier oben jenseits der 2000 Höhenmeter im Winter lange genug, stoppt die Schmelze, halten Erosionsprozesse an, stabilisiert sich das Ganze. Man kann jetzt hinein, weil nun alles (wieder) festgefroren ist und kaum Wasser fließt.
In jedem Winter sieht die Höhle anders aus; wie groß sie aktuell ist und wie tief – man wird sehen, auch wie es dort genau aussieht in dieser Saison. Die Höhle hat die Ausmaße eines Kirchenschiffes, und ebenso sakral ist auch die Atmosphäre. Wohl auch deshalb die intuitive Zurücknahme seiner selbst, die Schritte sind bedächtig, wohltuende Sprachlosigkeit, eine tiefe und innere Ruhe breitet sich aus in Körper und Geist. Man versucht zu begreifen, langsam und mit Bedacht auch dies.
Farbe der Ruhe
Das Eis schimmert in Blau und Türkis. Je tiefer im Eis, desto dunkler sind die Farben. Blau ist die Farbe der Ruhe. Und leuchten tut das Eis nur, wenn Sonnenlicht durchscheinen kann. Allzu viel Eis und Schnee darf also nicht über der Höhlendecke liegen, damit das Eis unten schön schimmert. Auf dem Weg durch das Eis filtert dieses Farbanteile aus dem Spektrum des Sonnenlichtes heraus, Blau bleibt übrig, die Intensität und Note ist abhängig von der Dicke des Eises. Das sagt das Lehrbuch und die Realität aber ist fast verstörend schön. Es ist eine andere Erlebnisebene. Eine Reduktion auf das Rohe gewiss, doch Form und Farbe des Eises relativieren dies, gleichen es durch eine Form von Gefälligkeit aus.
„Eis ist kalt, auch in der Farbe, und hart wie Stein.“
Blau aber wirkt beruhigend und entspannend. Wohl auch deshalb herrscht in dieser Höhle ein seltsames Gefühl von Aufgehobensein, obwohl es genauso gut der Weltraum sein könnte. Das Blau des Eises wirkt wie ein fester Himmel unter dem freien Himmel, beschützend. Eine Form von Losgelöstheit, ein Zustand seltsamen Schwebens. Phantasiewelten und Faszination. Das hier ist ganz weit weg vom Rest der Welt und von überirdischer Klarheit.
Zinaltal – Ort der Kontraste
Hier weißer Eispuder oder hineingewehter Schnee, dort erscheint das Wasser schwarz, zerborstene Eistrümmer neben sanft geschwungenen Linien filigraner, natürlicher Eisskulpturen. Fällt noch direktes Licht hinein in diese Grotte, glänzt das Eis und glitzert wie ein Sternenhimmel. Die Decken und Wände in dieser Höhle aus Eis sind oft hohl geformt wie abertausend Muschelschalen, Schmelzprozesse haben so etwas geschaffen. An anderer Stelle sieht das Eis aus wie erstarrte Gewitterwolken. Und wo das Eis endet und das Wasser beginnt, ist oft kaum sehen. Der Wanderleiter mahnt erneut und ausdrücklich zu besonderer Vorsicht. Der Zinal Gletscher transportiert auch Gestein, was nicht zu mehlfeinem Pulver zerrieben worden ist und vom Wasser fortgetragen wurde, liegt herum. Und daneben funkelt das Eis wie ein Edelstein. Wie ein Türkis, wie ein Aquamarin, wie ein Saphir.
Der Eisbach murmelt
An der Schwelle der Wahrnehmbarkeit ist das Murmeln der Navisence zu hören. Dem Bach, der auch im Winter und dann auf das Minimum reduziert, aus dem Eis fließt. Das Wasser scheint direkt aus einer Eiswand zu kommen, dem sichtbaren Ende dieser Grotte. Was ist dahinter, hat die Höhle eine Fortsetzung, wie sieht es dort aus, geht es gar weiter? Der Gletscher offenbart nur einen kleinen Teil seiner Geheimnisse. Und das ist mehr als genug zum Entdecken. Vorsichtig sind die Schritte in der Höhle; so, als befürchte man, dass sich die Bilder und Eindrücke beim Betreten oder Anfassen auflösen würden wie ein Traum, aus dem man geweckt wird. Ein Ort voller Magie, der nicht für den Menschen geschaffen ist. Irgendwann ist es doch zu Ende, löst sich diese Realität auf wie ein Traum. Dreht man sich später auf dem Rückweg um – man wird den Eingang nicht mehr sehen. Zu schön, um wahr zu sein.