Von Oliver Abraham

Cuxhaven / Insel Neuwerk. Neuwerk Wattwanderung – auf dem Weg zu Ruhe und Abgeschiedenheit. Es war eine sternenklare, schon kühle Nacht im Herbst. Die Sonne ging gestern mit irrem Farbenspiel im Wattenmeer unter; ein geheimnisvolles Knistern war im Watt zu hören, eines dieser sonderbaren Phänomene, wenn der Meeresboden wieder für ein paar Stunden auftaucht.

Da draußen, im Zwielicht schon und im nur noch Ungefähren, tauchte eine Insel auf. Wir stehen heute Morgen am Strand des Nordseeheilbades Cuxhaven, Ortsteil Sahlenburg, und der Wattführer Matthias Magiera von „Wunderwelt Watt“ sammelt seine Gäste. Zehn Kilometer sind es, dreieinhalb Stunden soll es dauern, nach Neuwerk hinüberzuwandern. Zu dieser Insel da draußen, die kurioserweise zu Hamburg gehört. Und die viel näher zu sein scheint, als sie wirklich ist.

Neuwerk Wattwanderung mit Wattführer Matthias Magiera von „Wunderwelt Watt“. Foto: Oliver Abraham
Wattführer Matthias Magiera von „Wunderwelt Watt“. Foto: Oliver Abraham

Sicher durchs Watt: Mit Wattführer Matthias nach Neuwerk

Diese Täuschung der Entfernung gehört zu den Gefahren im Watt, die Unkundigen drohen. Glaube niemand, das geht mal einfach ebenso. Um sicher unterwegs zu sein und das mit gutem Gefühl, gehe ich nur mit orts- und sachkundiger Führung ins Watt. GPS-Gerät und Signalpistole hat der Wattführer dabei, Mobiltelefon und Verbandsmaterial; er hat Kompass und Karte, Kontakt zur Wattrettung und viel Kenntnis, nicht nur von der Natur (die natürlich sowieso), sondern vor allem von Wetter und Weg.

Nach Neuwerk also, und das zu Fuß; man kann auch den Wattwagen, gezogen zum Beispiel von Pferden, nehmen. Man kann auch rüberreiten, beliebt bei denen, die es können. Man kann das Schiff nehmen. Ich bleibe ein paar Nächte dort, um die Ruhe und Abgeschiedenheit der Insel Neuwerk zu genießen.

Wattwanderung zur Insel Neuwerk vor Cuxhaven mit Wattführer Matthias Magiera. Foto: Oliver Abraham
Wattwanderung zur Insel Neuwerk vor Cuxhaven mit Wattführer Matthias Magiera. Foto: Oliver Abraham

Neuwerk Wattwanderung: Den Prielen auf der Spur

Wir laufen der Ebbe hinterher, dem ablaufenden Wasser also – der Nordsee selbst, wenn man so möchte. Es ist eine der Grundregeln, mit gewissem und sicherem Zeitpuffer vor dem Niedrigwasser loszumarschieren. Denn Priele müssen wir queren; das sind die Ablaufrinnen, die das Watt durchziehen, es sind die „Flüsse auf dem Meeresboden“.

Und dort läuft das Wasser als Erstes wieder auf, kann Wege abschneiden, während Flächen noch frei liegen. Mit unheimlicher Kraft strömt das Wasser durch diese Priele. Man muss zum Scheitelpunkt des Niedrigwassers den letzten Priel durchquert haben, sodass ab dem Zeitpunkt des auflaufenden Wassers kein Priel mehr zwischen Wattwanderern und der Insel beziehungsweise dem Festland ist.

Wattwanderung zur Insel Neuwerk. Foto: Oliver Abraham
Wattwanderung zur Insel Neuwerk. Foto: Oliver Abraham

Entdeckungen im Wattenmeer: Artenvielfalt und Seezeichen

Mit einem Wattführer unterwegs zu sein, der all das kennt, ist ein Grund, an einer orts- und sachkundigen Wattführung teilzunehmen. Der andere: Die Artenvielfalt im Watt ist enorm, doch man sieht sie in dieser Vielfalt eben oft nicht. Nicht alles, nicht auf den ersten Blick, meint Wattführer Matthias, denn vieles sei verborgen im Wattboden. Auf jeder Wattführung gibt es etwas zu entdecken, zu erleben, zu lernen.

Matthias berichtet zum Beispiel von der lebenswichtigen Energietankstelle für Zugvögel, die sich hier auf den Wegen zwischen Sommer- und Winterquartier sattfressen. Es ist September, und längst sind die Vögel unterwegs zwischen Arktis und Afrika. Mit dem Fernglas sehe ich auch die großen Containerschiffe auf dem Weg von und nach Hamburg. Bei Cuxhaven mündet die Elbe in die Nordsee, und dort – in einer Entfernung von sechs bis acht Kilometern von unserem aktuellen Standort – liegt eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt.

Wunderwelt Wattenmeer. Foto: Oliver Abraham
Wunderwelt Wattenmeer. Foto: Oliver Abraham

Hinter einem Priel zeigt der Wattführer eine Muschelbank und erklärt die Zusammenhänge. Austern, Miesmuscheln. Es riecht frisch und gut nach dem Meer. Matthias findet Pfeffermuscheln, Herzmuscheln und solche, die man hier „Pissmuscheln“ nennt – diese spritzen Wasser, wenn sie Schritte in ihrer Nähe spüren. Sandklaffmuscheln heißen sie eigentlich; wir finden Schwertmuscheln. Der Weg führt nun zwischen zwei großen Prielen, aber nicht auf direktem Weg auf Neuwerk zu. Und wieder ist etwas seltsam: Die Insel scheint, so nah sie doch beim Start am Strand in Cuxhaven-Sahlenburg wirkte, nicht näherzukommen.

Rettungsbaken und die Ankunft in Hamburgs Exklave Neuwerk

In regelmäßigem Abstand stehen in diesem Wattgebiet zwischen Cuxhaven und der Insel Neuwerk Metallkäfige auf hohen Pfosten; es sind „Rettungsbaken“ für diejenigen, die zum Beispiel von der Flut überrascht werden. Die Nordsee wartet nicht.

Wir müssen weiter, so spannend all die Sachen auch sind – Meersalat probieren, obskure Muscheln am Finger saugen zu lassen („…steckt mal einen Finger in dieses Loch da im Wattboden…ich verspreche euch, die haben keine Zähne!“ sagt Matthias), an der Richtung der Sandrippeln versuchen zu verstehen, weshalb man daran die Lage des Festlandes erkennen kann. Neuwerk liegt mal links voraus, mal rechts, kommt und kommt nicht näher. Sahlenburg, die Küste lange schon verlassen, wirkt noch so nah wie zuvor. Wir stehen auf einer Sandbank mitten im Nirgendwo und sind soeben in Hamburg angekommen, im Stadtbezirk Mitte.

Lichtspiele auf dem Weg Richtung Neuwerk, zu dieser Insel da draußen, die kurioserweise zu Hamburg gehört. Foto: Oliver Abraham
Lichtspiele auf dem Weg Richtung Neuwerk, zu dieser Insel da draußen, die kurioserweise zu Hamburg gehört. Foto: Oliver Abraham

Steht die Flut hoch, ist es hier tiefer, als jeder Gast groß ist – und dabei stehen wir auf einer Sandbank. Und irgendwann auf dem letzten Stück Strecke nach Neuwerk erkennt man vor allem daran, dass vermehrt Austernfischer (das sind Vögel) und Gänse zu sehen sind, und dass die Insel so weit weg nun doch nicht mehr ist. Neuwerk sieht schon ganz nah aus, doch wir werden noch etwas gehen. Allmählich kommen wir an. Dann riecht die Luft anders. Und bald knirschen die Schritte auf angespülten Muschelschalen. Wir sind auf Neuwerk.

Abendstimmung auf Neuwerk: Natur und Weite am Deich

Auf Neuwerk abends am Deich. Es sind Hunderte von Vögeln, wenn nicht Tausende; ein Schwarm stiebt auf, und es sieht aus wie dicker Rauch. Der Blick fällt auf die Insel Scharhörn, gelegen noch viel weiter draußen als Neuwerk selbst. Mit dem Fernglas sind die Wohn- und Arbeitscontainer des Inselwartes zu erkennen – es sieht aus wie Schachteln auf Stelzen mit großen Antennen oben drauf. Er lebt dort vom Frühjahr bis in den Herbst allein und für den Naturschutz; zählt zum Beispiel Vögel, dokumentiert das alles und passt auf die Insel auf. (Wer hin möchte – das ist im Ausnahmefall möglich, aber streng geregelt – möge sich dazu beim Verein Jordsand erkundigen).

Neuwerk vor Cuxhaven gehört tatsächlich zu Hamburg. Foto: Oliver Abraham
Neuwerk vor Cuxhaven gehört tatsächlich zu Hamburg. Foto: Oliver Abraham

Es ist ablaufendes Wasser; die Vögel werden aktiv. Wattboden fällt frei, und dort, wo noch Wasser steht, schimmert es in hellem Blau. Das Fernglas verdichtet die Perspektive, und ein Frachtschiff scheint direkt auf Scharhörn zuzufahren. Das Wasser auf dem Wattboden nimmt mit dem fortschreitenden Sinken der Sonne andere Farben an, wird dunkler, satter, und der Himmel steht in Flammen. Vogelschwärme tanzen ein seltsames Ballett am Abendhimmel, und ihre Stimmen – froh bis aufgeregt und vielfältig sowieso – wehen bis hierher.

Pferde in Hamburg, bzw. auf der Insel Neuwerk, die kurioserweise zu Hamburg gehört. Foto: Oliver Abraham
Pferde in Hamburg, bzw. auf der Insel Neuwerk, die kurioserweise zu Hamburg gehört. Foto: Oliver Abraham

Zwischen Traum und Realität: Nacht am Wattenmeer

Die Sonne ist untergegangen; die Dämmerung ist lang. Im Zwielicht sehen die Pferde – es sind helle Schimmel, die über die Salzwiese, dem Land vor dem Deich, laufen – aus wie Gespenster. Ihr leises Schnaufen mischt sich mit den Rufen der Wildgänse, verweht in der beginnenden Nacht. Es sind Bilder und Empfindungen, die ins Traumhafte abzugleiten beginnen.

Über das Wattenmeer kann man von Cuxhaven nach Neuwerk wandern. Foto: Oliver Abraham
Über das Wattenmeer kann man von Cuxhaven nach Neuwerk wandern. Foto: Oliver Abraham

Wieder verdichtet das Fernglas die Perspektive: Vorn die Salzwiese, ein besonderer und wertvoller Naturraum, der deichaußen liegt und von der Flut, vom Hochwasser der Nordsee, bisweilen überflutet wird; ein Grenzlebensraum, amphibisch, nicht mehr Land und noch nicht Meer. Ein Ort, an dem sich das Feste und Verbindliche auflöst, übergeht ins ewig Wandelbare und Unbegreifliche.

Dahinter erkennt man, in Wirklichkeit weit weg, die Ölförderplattform „Mittelplate“, hell erleuchtet. Sie sieht aus wie eine im Wattenmeer gestrandete Raumstation, sie scheint zu schweben. Ich sehe den Lichtkegel eines fast vollen Mondes, der das Wasser der Außenelbe kupferfarben färbt; ein mächtiges Schiff schiebt sich durch diesen Lichthof elbaufwärts und verschwindet aus der Sicht.

Wattwanderung zur Insel Neuwerk vor Cuxhavent. Foto: Oliver Abraham
Wattwanderung zur Insel Neuwerk vor Cuxhavent. Foto: Oliver Abraham

Überhaupt die Lichter am Meer. Ich sehe sie in Rot und Grün und Weiß, ich beobachte sie im Nahen und im Fernen; sind sie weiter weg, Kilometer draußen auf See, beginnen sie wegen der atmosphärischen Zirkulation zu zittern. Die Schiffe auf dem Weg von und nach Hamburg schieben sich über die Horizontlinie. Mächtige Baken – das sind fest installierte Seezeichen – weisen den Weg. Die Rufe der Seevögel haben jetzt einen klagenden Unterton. Ich höre ganz leise noch das Schnaufen der Schimmel und rieche jetzt – es dunkelt, und andere Sinne als die des Sehens scheinen sich zu schärfen – den kühlen, feuchten, würzigen, bisweilen auch modrigen Geruch des Wattenmeeres. Ein prachtvoller Sternenhimmel ist aufgegangen, und früher haben sich die Seeleute daran orientiert.

Die Feuerwehr Hamburg kümmert sich um die Sicherheit auf der Insel Neuwerk. Foto: Oliver Abraham
Die Feuerwehr Hamburg kümmert sich um die Sicherheit auf der Insel Neuwerk. Foto: Oliver Abraham

Informationen für Ihre Reise nach Neuwerk und Cuxhaven:

Diese Reise wurde unterstützt von Tourismusmarketing Niedersachsen und Nordseeheilbad Cuxhaven.

Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und/oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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