von Oliver Abraham
Brig. Schweiz. Es ist Sommer. Noch immer liegen auf rund 3000 Höhenmetern unterhalb des Eggishorn im schweizerischen Kanton Wallis Schneefelder. Stunde um Stunde führt Wanderleiter Edelbert – Ed – Kummer seine Gäste über die steilen Pfade in den Bergen nahe des Aletsch-Gletschers.
Blutrote Flecken im Schnee
Bergpanoramen wie aus dem Bilderbuch sind das hier, es ist Hochgebirge und so wundert letzter Schnee noch im Sommer niemanden. Abwechslungsreiches Erleben, forderndes, aber angenehmes Bergwandern. Dann aber stutzen die Leute; es ist ein Anblick, der verstört, überraschend ohnehin, für Unkundige nicht zu erklären – der Schnee hat eine rosa Färbung, dann blutrote Flecken darauf, wie hin gespritzt.
Blut, Vogelkot oder gar Meteoriten?
Nebel kommt auf und sickert über den Hang, verschluckt die schroffen Gipfel. Merkwürdig und geheimnisvoll war es im ersten Augenblick, nun wirkt die Szene gespenstisch. Gänsehaut nicht nur wegen der eisigen Böen, die von den Bergen fallen. Instinktiv sieht man sich um. Fragt sich, was hier passiert ist.
Was in dieser windigen Einsamkeit auftaucht, ist Blutschnee. Ein Phänomen, das bis heute nicht endgültig entschlüsselt ist. Rätselhaft und im wahren Wortsinn unfassbar. Versucht man es in die Finger zu nehmen, verschwindet es. Niemand weiß vorher, wann, wo und in welcher Intensität der Rote Schnee auftritt.
Windige Einsamkeit in Schweizer Alpen
Was, wie in diesem Fall eines vergangenen Sommers so intensiv war wie selten, kann im folgenden Jahr an derselben Stelle völlig ausbleiben. Man weiß es vorher nie, Blutschnee entzieht sich dem Verstand und der Vorhersage. Nach der ersten Erschrockenheit, grundsätzlichen Erklärungen und dem Ausschluss eines Verbrechens – die Phantasie kennt keine Grenzen, spielt gerne verrückt – überwiegt die Neugier der Skepsis.
Ed sucht und findet einen sicheren Weg durch das Schneefeld. Blutschnee ist ein flüchtiges Phänomen, auch, weil die Schneefelder, auf denen es auftreten kann, bald abgetaut sein können. Der Wanderleiter nimmt vorsichtig eine Hand voll des Roten Schnees von der Oberfläche des Schneefeldes, darunter ist der Schnee reinweiß. Das Färbende ist also nur auf der Oberfläche, kein Blut, das – und auch davon ging man lange aus – den Schnee tränkte. Selbst in der unmittelbaren Umgebung dieses gefärbten Schneefeldes, also in gleicher Höhenlage und mit gleichem Mikroklima, ist längst nicht jeder Schnee rot.
Ed findet einen sicheren Weg durch den Schnee
Auf Blutschnee zu treffen, ist etwas Besonderes. Grundsätzlich kann er überall dort auftreten, wo später bis ewiger Schnee vorhanden ist – in den Polregionen und im Hochgebirge. Wo es Schnee auch noch im frühen Sommer gibt. Schon immer staunten Reisende, wenn sie auf roten Schnee trafen.
Die Farbe von Blut auf reinem Weiß, das sorgt bei Unkundigen für reichlich Spekulation und abenteuerliche Erklärungen. Manche schaudern und andere, wie Alexander Theodor von Middendorff, zogen gleich das Gewehr und spähten nach einem vermeintlichem Raubtier, das hier doch eine Beute gerissen haben müsste. Wo sonst sollte diese Färbung herkommen – das war Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts in Ostsibirien.
Blut auf reinem Weiß
Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte Kapitän John Ross mit seiner Mannschaft während der Suche nach einer Nordwest-Passage in der Baffin-Bay in der kanadischen Arktis eine ausgedehnte Fläche mit Rotem Schnee. Sofort begannen Spekulationen über Ursache und Herkunft. Und alle machten mit: die Naturforscher sämtlicher Fachgebiete und die Theologen – die Lösungsvorschläge reichten über Vogelkot bis zu irgendetwas mit Meteoriten. Ganz schlüssig war gar nichts, Blut klang noch am vernünftigsten.
Immer aber tauchte das Phänomen ganz hoch oben in den Bergen oder ganz hoch oben in den Breitengraden auf. Ohnehin ist dies eine Welt bisweilen bizarrer Schnee- und Eisverhältnisse, streckenweise pure Magie, manchmal eine voller Mythen – warum also nicht auch abseitige Vermutungen? Manch Farbe vermutet man im Hochgebirge oder den Polregionen, vielleicht rechnet man auch mit Rot. Aber man rechnet nicht mit so etwas Krassem, so etwas Kontrastreichem, so etwas Schlagartigem. Blutschnee zu entdecken, ist eine seltsame Mischung aus instinktiver Furcht und baldiger Faszination. Man will das erkunden, es sich näher ansehen. Es in die Finger nehmen. Und tut man das, zerrinnt es einem. So, wie ein flüchtiger, irrer Traum verschwindet. Es löst sich einfach auf und lässt den Wanderer zwischen Himmel und Erde ratlos zurück. Saharastaub ist das hier und heute nicht.
Gänsehautmoment im Blutschnee
Letztlich haben es die Wissenschaftler doch heraus gefunden, wenngleich – und es ist schön, dass Rätsel bleiben – nicht alles: Roter Schnee entsteht durch Grünalgen. Diese mikroskopisch kleinen und kälteliebenden Algen bilden im Sommer (und nur dann gibt es Blutschnee, deshalb Polregion oder Hochgebirge) massenhaft sogenannte Überdauerrungsstadien. Währenddessen, also einer Phase in ihrem komplizierten Lebenszyklus, bilden sie ein Pigment; eben das rot Färbende. Gibt´s auch in grün oder orange. Längst sind ihnen Forscher genauer auf der Spur.
Extremophile, also Lebewesen unter besonders harschen Umweltbedingungen, versprechen ein interessantes Potential als Bio-Ressource. Es gibt wissenschaftliche Bio-Banken, dort lagern diese Algen in Kühlschränken, Biologen suchen und finden Blutschnee weltweit. Warum es an manchen Orten ausgedehnte Felder von Blutschnee gibt, andernorts aber keine, bleibt rätselhaft. Ebenso das ganze Leben dieser Alge. Woher kommt sie? Und wohin geht sie, wenn der Rote Schnee taut? Verschwindet sie mit dem Schmelzwasser oder bleibt sie einfach, völlig unscheinbar, auf dem Fels liegen? Man weiß das nicht so ganz genau.
Blut oder göttliche Strafe?
Die Flecken und die Färbung auf dem Schnee wirken wie zufällig hingeworfen, unregelmäßig tritt sie auf. Aber wo das der Fall, da ist es spektakulär; rot auf weiß ist der denkbar stärkste Kontrast und dass man lange auch an Blut glaubte, oder wenn man nicht mehr weiter wußte, an göttliche Strafe, wundert nicht. Der Anblick ist über die Maßen krass.
Die Schritte knirschen im harschen Schnee, vorsichtig und jeden Schritt sorgfältig gesetzt, geht es über dieses Schneefeld, es hängt schräg am Hang. Dass der Nebel manchen Blutschnee schon wieder verschluckt hat, macht die Situation nicht weniger geheimnisvoll. Ein flüchtiger Traum? Gewiss nicht. Doch irgendwie irre ist es schon. Schnee bricht unter den Wanderschuhen, ein eiskalter Hauch lässt frösteln und wieder verschluckt der Nebel die Kameraden. Was bleibt, sind einsame Spuren in – rotem!, rosa! – Schnee. Immer wieder tauchen gefärbte Schneefelder auf, so heftig und intensiv wie in dem schon vergangenen Sommer war es hier selten. Wer Blutschnee erleben möchte, muss auch Glück haben.
Die Gruppe um Wanderleiter Ed Kummer erreicht den Tällisee, knapp 400 Meter tiefer gelegen als die ersten rotgefärbten Schneefelder. Wasser tropft, rinnt und gluckert, Schnee schmilzt und damit verschwindet der Blutschnee. So, als wäre er nie da gewesen. Schaurig, schön, ein flüchtiges Phänomen.
- Diese Reise wurde unterstützt von Schweiz Tourismus (myswitzerland.com)
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