Von Oliver Abraham

Essen. Sie sind liebenswerte Nischen in einer längst oft langweiligen, meist gleichförmigen und in der Regel vorhersehbaren Konsumwelt – hier wird verkauft, was wirklich gebraucht wird: Auf die Trinkhallen ist Verlass.

Tag der Trinkhallen im Ruhrgebiet. Wer Büdchen macht oder Trinkhalle, der macht das mit Liebe, Lust und Leidenschaft, wie hier in der Trinkhalle "Die Windmühle". Foto: Oliver Abraham
Wer Büdchen macht oder Trinkhalle, der macht das mit Liebe, Lust und Leidenschaft, wie hier in der Trinkhalle „Die Windmühle“. Foto: Oliver Abraham

Am 6. August 2022 feiert die Metropole Ruhr zum dritten Mal ihre Budenkultur, es ist wieder Tag der Trinkhallen – inzwischen sind diese für das Ruhrgebiet so typischen Kioske, Buden, Büdchen und Trinkhallen offiziell immaterielles Kulturerbe.

Trinkhallen gibt es überall im Ruhrgebiet

Eine Trinkhalle ist so viel mehr als reiner Verkaufspunkt: Sie ist Klatschbörse und Kummerkasten, ist Kramladen für Kleinigkeiten. Es gibt sie überall im Ruhrgebiet – an der Schnellstraße ebenso wie im Wohnquartier – und sie sind typisch Kohlenpott, geöffnet von früh morgens bis oftmals spät in den Abend. Sie sind ein unverzichtbares Kulturgut, gehören zum Ruhrgebiet unbedingt dazu. Der Tresen mit den Tabakwaren dahinter, Naschkram auf der Theke, Zeitungen und Regale mit den Konserven, Kühlschränke mit Bier. Hundefutter, frische Croissants am Morgen oder das Mettbrötchen – gibt es alles im Büdchen.

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Tag der Trinkhallen im Ruhrgebiet. Foto: Oliver Abraham

Der Begriff „Trinkhalle“ führt in die Irre – statt einer Halle ist es oft engster Raum und getrunken wird hier, wenn überhaupt, meist Kaffee. Natürlich gibt es Bier zu kaufen, getrunken wird das in aller Regel aber zu Hause, in vielen Trinkhallen darf es, soll es, das auch gar nicht. Die ersten Trinkhallen wurden zu Beginn der Industrialisierung geschaffen, um die Arbeiter vom Alkoholkonsum abzuhalten – es gab dort Wasser zu Trinken. Bald war ihr wichtigster Auftrag: den Arbeitern auch nach der Schicht jeder Zeit ein Warensortiment für den täglichen Bedarf zu bieten. Längst haben die Büdchen auch eine soziale Funktion als Treffpunkt. Immer noch, komme was wolle. Und stolz sind sie, Inhaber wie Anwohner, auf „ihre“ Trinkhalle, „ihr“ Büdchen.

Tag der Trinkhallen

Am 06. August finanziert und organisiert die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) ein Kulturprogramm an 50 von einer Jury ausgewählten Trinkhallen. „Die Betreiberinnen und Betreiber stecken viel Herzblut in ihre Betriebe, entwickeln teilweise neue Konzepte und innovative Angebote“, sagt Axel Biermann, Geschäftsführer der RTG, „wir freuen uns, ihnen mit dem Tag der Trinkhallen eine Plattform zu bieten.“

Die teilnehmenden Trinkhallen verteilen sich über das gesamte Ruhrgebiet. „Das perfekte Fortbewegungsmittel am Tag der Trinkhallen ist das Fahrrad“, sagt die Regionaldirektorin im Regionalverband Ruhr Karola Geiß-Netthöfel, „und Dank des hervorragenden Radwegenetzes im radrevier.ruhr finden Besucherinnen und Besucher auch die Buden in den Kreisen und den kleineren Städten und Gemeinden des Ruhrgebietes.“ Dazu konzipiert die RTG spezielle Fahrradrouten, die zu verschiedenen Buden lotsen. Auch geführte Touren sind in Planung. (tagdertrinkhallen.ruhr). Unser Autor fuhr mit dem Rad von Bochum über Essen nach Duisburg. Das E-Bike wurde von Ruhrtourismus über revierrad.de zur Verfügung gestellt – an der Jahrhunderthalle in Bochum abgeholt und am Hauptbahnhof in Duisburg abgegeben. Die Strecke folgte verschiedenen ausgewiesenen Radrouten. Sie führt durch abwechslungsreiches, vielfältiges Ruhrgebiet.

Das Fahrrad als ideales Fortbewegungsmittel

Fünfzig Kilometer sind für einen Tagesausflug mit den entsprechenden Stopps das obere Limit einer sinnvollen Tour. Die im Beitrag genannten Trinkhallen sind eine Auswahl, an der Strecke gibt es viele mehr. Büdchen sind eigentlich Verkaufsstellen, die einen Schalter haben, die der Kunde nicht betreten kann, in Verkaufshallen hingegen kann man hinein, um dort einzukaufen oder einen Kaffee zu trinken. Oder eine Runde reden – freundliche Aufnahme garantiert.

Tag der Trinkhallen im Ruhrgebiet. Ein Radweg bei Bochum. Foto: Oliver Abraham
Ein Radweg bei Bochum. Foto: Oliver Abraham

Die Reifen summen über regennassen Asphalt, der Förderturm einer alten Kohlenzeche ist zu sehen. Es riecht nach frisch gemähtem Gras. In der Luft liegt ein vielstimmiges Vogelgezwitscher und das Rauschen der A40. Zu hören ist ferner das Schrammen von Metall in einer Fabrik, das Rumpeln eines Baggers. Metallwände und Zäune aus Blech mit Stacheldraht obendrauf, mit Graffiti unten dran, begleiten den Radfahrer. Dann ist Ruhe, dann ist nur noch das Bellen eines Hundes zu hören, das Wispern des Windes in den Kronen der Bäume und ganz fern, ganz leise das ewige Rauschen der Ruhrstadt.

An der Ruhr bei Essen. Foto: Oliver Abraham
An der Ruhr bei Essen. Foto: Oliver Abraham

Später um Punkt zwölf Uhr kurz vor Essen-Rüttenscheid allein die Kirchenglocken. Im Essener Süden radelt man entlang der Ruhr und durch enge Täler, in deren dichtem Grün sich verwunschene Bäche winden. Wer hätte gedacht, dass der Weg vom Ballungsraum ins Grüne oft nur ein paar Minuten dauert. In der Tat ist das so; grüner als gedacht. Hier und heute mit dem Fahrrad auf der Erzbahntrasse unterwegs zwischen Bochum und Gelsenkirchen.

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An der Ruhr bei Essen. Foto: Oliver Abraham

Radwege wie dieser bilden das Wegenetz in einer der denkbar spannendsten und vielseitigsten radtouristischen Regionen überhaupt. Aber man bedenke: so schnell man im Grünen ist, so schnell ist man auch ebenso wieder mittendrin in einer MegaCity, die zwischen Dortmund und Duisburg nicht anfängt, nicht aufhört.

Radeln 15 Meter über Grund

Ein schönes Beispiel fürs Radeln im Revier ist dieses: Die Trasse der alten Erzbahn beginnt an der Jahrhunderthalle in Bochum und verläuft später auf einem Damm. Als sie verlegt wurde, gab es bereits Infrastruktur, musste man überbrücken, also musste man noch höher – man radelt erhobene, erhabene 15 Meter über Grund. Und über schöne, historische Brücken. Blickt man durch den Tunnel aus dichtem, sattem Grün, sieht man ein rötliches Schimmern des metallischen Tragwerks eines dieser technischen Denkmäler. Nach dem Ende der Roheisenerz-Erzeugung in den späten 1960er Jahren brauchte niemand mehr diese Erzbahn, seit Ende der 1990er ist es ein Rad- und Wanderweg. Eine schöne Strecke, kreuzungsfrei und attraktive Grünverbindung zwischen zwei Städten. Gelungene Etappe.

Tag der Trinkhallen: Ein historische Brücke auf der Strecke entlang der alten Erzbahn. Foto: Oliver Abraham
Ein historische Brücke auf der Strecke entlang der alten Erzbahn. Foto: Oliver Abraham

Wie der Faden der Ariadne führen die Radrouten durch das Labyrinth des Reviers. Dieser und andere Radwege verbinden die Grünzüge und die mosaikhaft im Ballungsraum eingelagerten Zeugen und Denkmäler der Industriekultur. Dazu gehört auch die Bergehalde Rheinelbe, ein 110 Meter hoher Berg, ein Aussichtspunkt mit Kunst drumherum und einem üppigen Grün. Nicht viel später flattern gelb-grüne Vögel von den Eichen auf und fliegen kreischend in den Haselstrauch. Das sind Papageien, Alexandersittiche. Und dann wieder in der Stadt. Irgendwo im Ruhrgebiet. Und das nächste Büdchen ist nie weit.

Frikadellen-Tag in der „Windmühle“

Betritt man „Die Windmühle“, gelegen in einem ruhigen Wohnquartier, in Essen-Holsterhausen, so riecht es nach frisch gebratenen Frikadellen. „Heute ist Frikadellen-Tag“, sagt Juri Boluch – gestern war Mett das Angebot des Tages, morgen sind es vier Sorten Premium-Bier, die es günstiger gibt. Soll heißen: es gibt Schwerpunkt-Tage in dieser Trinkhalle, solche mit ausgesuchten Sachen. Die Frikadellen sind lecker und schmecken wie zu Hause, natürlich bereitet der Fleischermeister die köstlichen Klopse selbst zu. Neben der Windmühle betreibt Juri Boluch auch einen Catering-Service. „Ich habe Die Windmühle vor 17 Jahren übernommen“, sagt Boluch, längst ist sie Anlaufstelle, Mittelpunkt und Nahversorger des Viertels.

Der Metzgermeister macht gerne noch was Gutes extra, zum Beispiel Sommerfeste für die Straße, „am diesjährigen Tag der Trinkhallen gibt es hier auch Rinderbrust vom Grill, vegetarische Salate und – das ist ein Ruhrgebietsklassiker! – Blaubeer-Pfannkuchen.“ Und, als Ausnahme an diesem Tag, Bier dazu. Für den 6. August hat er eine Ausnahme-Ausschanklizenz, Alkohol wird im und vor dem Büdchen sonst nicht getrunken.

Draußen wartet ein junges Paar, um mit Juri Boluch die Speisenfolge ihrer anstehenden Hochzeit zu besprechen. Der Chef ist derweil am Telefon – die Gerichte einer anderen Festlichkeit vorzuschlagen; ach was, sich dafür zu verabreden. Das geht hier alles persönlich, das ganz Wichtige sowieso. „Kürzlich kam eine junge Mutter bei uns vorbei – sie hat uns ihr drittes Kind vorgestellt.“ Das ist Nachbarschaft. Rund ums Büdchen ist Gesellschaft, die im Kleinen so funktioniert, wie sie es im Großen tun sollte.

Mitarbeiterinnen sind das wichtigste Kapital
Mit Juri Boluch und Sandra Valentin in der "Windmühle" kann man alles bereden. Foto: Oliver Abraham
Mit Juri Boluch und Sandra Valentin in der „Windmühle“ kann man alles bereden. Foto: Oliver Abraham

„Wir bereden hier alles – das Gute wie das Schlechte, teilen Freude wie Sorgen“, sagt Juri Boluch. Mal was teilen und mal was loswerden. „Zeit für die Kunden zu haben, das ist das absolute Muss!“ Wie wertvoll ein Gespräch ist, merkten die Menschen in den vergangenen zweieinhalb Jahren. Am Büdchen gab es das. Auch mal nur eine Runde Reden ohne etwas zu kaufen. Und sie tun das gern, Meister Boluch und die Mitarbeiterinnen, „…ohne sie geht hier gar nichts. Sie sind das wichtigste Kapital!“

Büdchen macht man nicht mal eben so. Büdchen lebt man, Büdchen sind eine Lebenseinstellung.

Wer Büdchen macht oder Trinkhalle, der macht das mit Liebe, Lust und Leidenschaft. Büdchen bedeutet da sein, immer und unbedingt. „In der Pandemie wurde ganz deutlich, dass eine Form gegenseitiger Unterstützung existiert“, sagt Juri Boluch, „ohne unsere Stammkundschaft hätten wir Corona niemals überlebt, sicher nicht.“ Die Freundlichkeit, die Korrektheit, und auch die Kontinuität, das sich Verlassen können auf Gegenseitigkeit. „Kürzlich rief eine Frau an – sie hatte ein Grablicht vergessen. Ob ich nicht eines hätte….“ Hatte er nicht, besorgte Juri Boluch natürlich trotzdem. Nur Kleinigkeiten? Sicher nicht.

Trinkhalle "Die WindmŸühle" in Essen, Juri Boluch und Sandra Valentin. Foto: Oliver Abraham
Trinkhalle „Die WindmŸühle“ in Essen, Juri Boluch und Sandra Valentin. Foto: Oliver Abraham

„Hier sind zwei Discounter innerhalb von fünf Minuten zu Fuß erreichbar. Zeit zu haben, sichert uns unsere Existenz“, meint Juri Boluch. Büdchen bzw. Trinkhallen haben Weltkriege und Wirtschaftskrisen überlebt.

16 Stunden Arbeit am Tag

Was bleibt, was ändert sich? „16 Stunden Arbeit am Tag – die bleiben. Bei allen Änderungen, die die Zeit und der Lauf des Lebens mit sich bringt – die Tüte Süßes und Saures gemischt für zwei Euro, die bleibt auch, die ist auch ein absolutes Muss“, sagt er. Und denkt nach. „Was sich geändert hat? Die Leute müssen heutzutage auf das Geld achten, noch mehr als früher. Sie kaufen hier nach wie vor ein, aber gezielter und nicht mehr so spontan. Früher, nur ein Beispiel, holte man sich für den Fernsehabend mal eben mal fünf Pils für den Herrn und drei Piccolo für die Gattin. Das ist seltener geworden.“

Rosis Stübchen in Duisburg

Am Ende einer Fußgängerzone vor dem Duisburger Innenhafen liegt Rosis Stübchen. „Ich habe vor 41 Jahren mit meinem kleinen Büdchen hier nebenan angefangen“, sagt Rosita „Rosi“ Zaubi, „hier bin ich nun im achten Jahr“. Dieses ist größer, fast ein kleines Café schon, mit ein paar Tischen und Stühlen drinnen, draußen kann man ebenfalls gut sitzen, unter Sonnenschirmen dort. Vier Damen halten ihr tägliches Kaffeekränzchen ab, sie holen sich noch eine Runde Kaffee.

Trinkhallen im RuhrgebietRosita Zaubi und eine Tüte Naschkram in Rosis Stübchen. Foto: Oliver Abraham
Rosita Zaubi und eine Tüte Naschkram in Rosis StüŸbchen. Foto: Oliver Abraham

Drinnen reicht Rosita Zaubi über den Tresen: einen Kaffee mit Tagesbrötchen, Bierflaschen für einen Herrn und Fernsehzeitungen für die Dame, zwei Taschenflaschen Kräuterlikör eher genuschelt bestellt, der Bauarbeiter holt sich eine Frikadelle mit Senf. Zigaretten und Tabak natürlich auch, aber das werde weniger. Vorhersehbar ist mancher Kundenwunsch, der Kaffee mit Milch oder ohne, mit Zucker oder ohne, steht oft schon auf der Ausgabe, bevor der jeweilige Gast überhaupt vor ihr selbst steht. „Von Anfang an sind es viele Stammkunden“, sagt Rosita Zaubi, „…obwohl sich das Viertel in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt hat.“

In einem Büdchen alle herzlich willkommen

Oder gerade deshalb: das Büdchen, die Trinkhalle, ist so etwas wie ein Fixpunkt und ist Verlass in einer sich wandelnden Zeit, ist Heimat und Geborgenheit, wenn alles immer schneller wird und Gewissheiten in Frage gestellt werden. Das Büdchen bleibt. „Die Leute wissen, jeder weiß, dass sie oder er hier immer gern gesehen ist. In einem Büdchen sind alle herzlich willkommen“, sagt Rosita Zaubi, „…hier ist gute Laune ab sechs Uhr.“ Und ein offenes Ohr jederzeit. Auch das ist ein Grund, warum sie selbst fast ohne Freizeit und Urlaub lebt: „Man ist hier nie allein!“

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Naschereien gehen immer. Foto: Oliver Abraham

Es ist das Menschliche, es sind die Gespräche, es ist ein Ort des Aufgehobenseins. Ihren letzten Urlaub hat sich Rosita Zaubi zur Euro-Umstellung genommen, wollte mal sehen, wie das so ist und so wird mit dem neuen Geld. Sonst ist nur am ersten Januar zu, an allen anderen Tagen steht sie im Büdchen. Bevor sie um sechs Uhr aufschließt, war sie schon zwei Stunden in der Küche zugange: Kaffee kochen und Brötchen belegen, Frikadellen braten und Schnitzel. „Die Zeiten“, sagt sie, „sind schon schnelllebiger geworden, doch, das würde ich schon sagen, der Takt hat zugelegt. Aber auch nicht für alle, obwohl der Kaffee zum Mitnehmen in der Mittagspause längst völlig normal ist.“ Genauso wie herkommen, eine Runde quatschen, sich einen Kaffee holen und sich doch hinsetzen. Ist genauso normal wie die kleine Tüte Naschkram, gemischt für zwei, drei Euro. „Die wird oft von Erwachsenen gekauft“, erzählt Rosita Zaubi und greift mit der Zange einmal quer durch die Gläser, „…das kennen die noch von früher, als sie Kinder waren.“ Gutes bleibt.

Am 06. August 2022 ist wieder Tag der Trinkhallen im Ruhrgebiet. Foto: Oliver Abraham
Am 06. August 2022 ist wieder Tag der Trinkhallen im Ruhrgebiet. Foto: Oliver Abraham
  • Diese Reise wurde unterstützt von Ruhr Tourismus GmbH ruhr-tourismus.de
  • Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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