Von Oliver Abraham
Chur / Flims. Eine spektakuläre Schlucht wartet auf uns. Aufbruch zur Wanderung. Spannung, Vorfreude. Doch erstmal stehen wir am Bahnhof Valendas-Sagogn. Der Zug muss noch durch. GeoGuide Béatrice Paul verteilt die Schneeschuhe und manche Stellen unter den himmelhohen Flanken der Bündner Berge liegen winters im ewigen Schatten.
Schweizer Rheinschlucht mit Schneeschuhen erwandern
Eine eisige Kälte erfasst den Körper im Dämmrigen, dort, wo die Sonne noch wochenlang nicht scheinen wird, im Licht aber strahlen phantastische Formationen. Harte Kontraste, auch dadurch, dass in dieser Einsamkeit der Zugfahrplan geprüft werden muss. Schnee liegt überall in der Schlucht des jungen Rheins, der sechzig Kilometer weiter westlich aus einem Bergsee entspringt.
Einsamkeit in der Rheinschlucht
Zu Beginn der Tour führt ein Pfad in unmittelbarer Nähe der Schienen in das tiefe Tal hinein. Der Zug donnert vorbei, wir können los. Es ist einsam, kein anderer Wanderer ist hier und heute unterwegs. Schnee knirscht und Eis kracht unter den Schneeschuhen. Grün strahlt das Wasser, dort, wo die Sonne es erreicht, weiß gleißt dann der Schnee. Selten genug – denn im Januar scheint die Sonne nur kurz in dieses Tal. Im bläulich Schattigen wirken die Bäume schemenhaft. Bald führt der Pfad durch den Uferwald an den Fluss; hier haben seine Fluten Eisgrieß zusammengeschoben, dort hat das Wasser den Schnee fortgespült, es geht beschwerlich über Geröll und bald wieder in stetem Rhythmus der Schritte leicht über Schnee.
Im Winter nur mit Schneeschuhen
Das Gehen mit Schneeschuhen ist einfach zu erlernen, und anders könnte man jetzt im Winter hier vermutlich kaum unterwegs sein. „Eine Schneeschuhwanderung durch die Rheinschlucht ist theoretisch über den ganzen Winter möglich“, erklärt Béatrice, „…es ist natürlich von den Schneeverhältnissen abhängig, also ob zu viel Neuschnee liegt oder es zu vereist ist. Und sollte zu wenig Schnee liegen, dann binden wir die Schneeschuhe einfach an den Rucksack.“
Wechsel von Schotter zu Schnee
Unten am Fluss sind es nun abrupte Wechsel von Schotter zu Schnee vor der Kulisse senkrechter Wände in den erdigen Farben weiß, grau und ocker. Darüber ergießen sich Ströme aus Schutt, ein Stück Wald darauf ist auf halbem Hang hängen geblieben. Verhuschte Schatten schwarzer Vögel über stiller Tiefe. Das Tal liegt in einer sonderbaren Ruhe. Unterbrochen nur von manchem Vogelschrei, dem Geräusch eines Zuges und ab und zu fernem Poltern; alles leise, alles verhalten. Es ist ungestört.
Ruinaulta heißt die Rheinschlucht auf Romanisch
Dort, wo der Rhein die Flanken anfrisst, ragen sie steil und turmhoch auf. Die Bergflanken wirken wie in ewiger Bewegung und nur wie für den Augenblick erstarrt, so, wie eine Gruppe Bäume auf ihrem Weg abwärts. Echos von Vogelrufen wehen umher und hoch im Himmel kreisen Adler über dieser „Ruinaulta“, wie die Schlucht im Romanischen heißt, der vierten Sprache der Schweiz und hier im Kanton Graubünden noch oft gesprochen. Die Zinnen und Türme lassen die Wände der Schlucht wie ein Märchenschloss wirken.
„Also los! Wir wollen bis nach Versam Safien wandern – das sind rund fünf Kilometer Strecke ohne Abstecher. Dort ist auch ein Bahnhof, eine der drei Haltestellen in der Schlucht“, sagt Wanderleiterin Béatrice, bis dahin wird es ein ganzer Wandertag sein. Die Schlucht wird immer spektakulärer, beinahe wirken manche Wände bedrohlich. „Wir müssen uns davon oder gar überhängenden Flächen fernhalten, das Material ist instabil“, sagt Béatrice, „falls es gar nicht anders geht – bleib nicht stehen, geh zügig aber vorsichtig vorbei.“ Sie wird auf solche Abschnitte achten, und den Weg so wählen, dass es sicher ist.
Anspruchsvolle Wechsel im Gelände
Die Schneeschuhe rutschen hier über schieres Eis, dort drücken wir in tiefem Schnee das Unterholz beiseite, um vorwärts zu kommen; diese Wechsel sind anspruchsvoll, nicht das reine Gehen im Schnee. Die Flanken, die schroffen Senkrechten, werden immer höher. Es ist eine merkwürdige Gegend, und das Gefühl einer Unfertigkeit, die des Haltlosen eines doch vermeintlich Festen, der Instinkt also, er täuscht nicht.
Die heutige Schlucht entstand vor rund 9.500 Jahren
„Vor rund 9.500 Jahren stürzten oberhalb der heutigen Schlucht zehn Kubikkilometer Gestein vom Berg in das Rheintal“, erklärt die Wanderleiterin. Dieser „Flimser Bergsturz“ ist nach dem heutigen, dort befindlichen, Ort benannt, die Angaben zur Masse variieren, doch ist die Menge so oder so unvorstellbar und dieser Bergsturz ist einer der weltweit größten bekannten überhaupt.
„Die Schuttmassen verfüllten das Rheintal auf einer Fläche von 50 Quadratkilometern. Laut Forschungen hat sich der Rhein noch nicht bis in die Talsohle von vor dem Bergsturz eingegraben. Vom höchsten Punkt der Bergsturzablagerung bis zum heutigen Flussbett sind es knapp 600 Meter Höhendifferenz“, erklärt Béatrice. Das Wasser des Flusses staute sich zu einem See, seine schlagartige Teilentleerung fräste eine zunächst 80 Meter tiefe Kerbe in den frischen Schutt – es war der Beginn zur Ausformung der Rheinschlucht, der Erosionsprozess dauert noch heute an. Béatrice: „Der Rhein gräbt sich immer tiefer in das Material. Die Wände dieser Schlucht bestehen nicht aus festem Fels, sondern aus einer verdichteten, zusammengedrückten Masse Schutt.“
Zinnen, Türme, phantastische Formen
Es ist ein unsicherer Grund, immer wieder poltert was, fällt runter, gibt nach. Vom Haupttal führen tiefe Rinnen hinauf, hinein in die Flanken. Zinnen, Türme, phantastische Formen und Formationen sind stehen geblieben und überdauern doch nur erdgeschichtliche Augenblicke; all das ist nicht stabil – und deshalb halten wir Abstand und gehen, wenn es sich nicht vermeiden lässt, zügig und aufmerksam an exponierten Stellen vorbei. Dass man dort nicht hineinspaziert und herumklettert, gebietet der gesunde Menschenverstand. Bewundern, staunen von sicherer Stelle aus, das darf man doch.
Drei Wanderwege von Norden
Von oben ist die Schlucht nahezu unzugänglich: Aus Norden führen drei Wanderwege und zwei kleine Straßen hinunter, durch die Rheinschlucht aber führen eine Eisenbahnlinie und eben Wanderwege, die oft nahe des Flusses verlaufen. Längst sind wir weit von den Gleisen entfernt, winken trotzdem den Gästen des „Glacier Express“, und gehen durch ein Labyrinth aus Schotterbänken und Geröll, aus Tümpeln und wild umhergeworfenem Treibholz. Die Mittagssonne scheint auf eine gewaltige Flanke, in die der Rhein düstere Höhlen und Grotten gefräst hat.
Reduzierung auf das Rohe, das rein Ursprüngliche
Wir bestaunen diese Kulisse aus sicherer Entfernung, über uns ist nur der blaue Winterhimmel. Und selten rauscht der Rhein, meist murmelt er. Im Winter führt der Fluss wenig Wasser, so liegen weite Uferbereiche frei und ermöglichen ein leichtes und rasches Fortkommen. Das erlaubt Momente des Innehaltens auf diesen seltsam leeren Flächen, die auf das Rohe reduziert sind, auf das rein Ursprüngliche – auf Wasser und Stein, auf Himmel und Erde, auf Licht und Schatten; elementare Gegensätze. Wo die hellen Flanken das Licht reflektieren, ist es beinahe warm, ein eisiger Hauch ein paar Schritte weiter nur.
„Das Schönste für mich an der Rheinschlucht im Winter ist die Einsamkeit, das Schauen und Staunen zu den Felsschuttwänden und Turmformationen hinauf in dieser Stille, das ruhige und stete Fließen des Wassers, die Geräusche der Natur“, sagt Béatrice. Längst hat man das Gefühl, weit weg vom Rest der Welt zu sein, Entdecker zu sein. Ab dem Frühjahr, nach dem Hochwasser, sind zudem weite Flächen wegen des Vogelschutzes gesperrt – seltene Vögel wie der Flussuferläufer brüten dann zwischen den Steinen. Auch dies ermöglicht im Winter mehr Bewegungsfreiheit. In einer Gegend, wo Kiesbänke am Fluss von Eis überzogen sind, von Schnee bedeckt, und wie erstarrte Wellen wirken.
Mächtige Kurven, mächtige Wände
Der junge Rhein fließt in mächtigen Kurven durch seine Schlucht, nicht immer kann der Pfad dem Fluss folgen, mächtige Wände stehen manchmal bis ans Wasser oder ein Zulauf versperrt den Weg. Wollte man dem Fluss folgen, so müsste man ihn wieder und wieder queren, um auf der flachen Seite vorwärts zu kommen. Obwohl der Wasserstand jetzt im Winter wohl am niedrigsten ist, geht das nicht. Béatrice führt einen Pfad weit auf das südliche Ufer hinauf, es geht bald durch einen lichten Winterwald, Schnee rieselt von den Bäumen, das Licht – hier scheint die Sonne wieder – bricht sich zu einem flirrenden Funkeln und Glitzern. Tierspuren von Hasen, Rehen, Füchsen und Eichhörnchen kreuzen unseren Weg, folgen ihm, verschwinden wieder. Nun führt der Pfad auf eine freie Fläche, tief verschneit und verlassene Hütten stehen hier mit Schnee bis ans Dach. Auch diese Alm liegt in einer vollkommenen Stille.
Pause mit Käse und Apfel
Es ist Zeit für die Rast und Béatrice packt ihren Rucksack aus, einen Fonduetopf hat sie mitgetragen, Brot und Käse, Apfelschnitze zum Apéro. Das Feuer ist rasch angezündet, in die klare, kalte Luft mischt sich der schöne Duft von Holzfeuer und der Käse schmilzt bald im Topf. Man könnte lange noch hier sitzen in dieser traumschönen, bilderbuchhaften Winterherrlichkeit, in der Sonne. Aber neben vermeintlich festem Fels hat Béatrice eben auch den Fahrplan im Blick – und der sagt: Aufbruch. Denn ohne den Zug kämen wir heute nicht mehr aus der Schlucht hinaus.
Irgendwo in einer tiefen Schlucht
Der Weg zum Bahnhof ist noch ein schönes Stück Strecke, mit spektakulären Ausblicken auch hier – die tiefe Nachmittagssonne langt wie ein Theaterspot in diese Schlucht und setzt die schieren Flanken in Szene, modelliert. Einzelne Türme in Trümmern schon, schroff aufragende Solitäre auf rutschendem Schutt, obendrauf Schnee und ein paar Bäume. Unerreichbar und unwiderruflich auf dem Weg abwärts in den Fluss. So, wie seit 10.000 Jahren, es ist eine Gegend in fortwährender Transformation. Ein letztes Mal noch vorbei an einer heiklen Passage, wieder ein dumpfes, fernes Poltern irgendwo am Hang. Dann scharren die Schneeschuhe plötzlich über einen Bahnsteig. Irgendwo in einer tiefen Schlucht.
Kontakt Béatrice Paul über alpinasol.ch
Information:
zum nahen Wintersportgebiet und möglichem Ausgangspunkt einer Wanderung durch die Rheinschlucht: flimslaax.com, zur Region: graubuenden.ch
zum Urlaubsland Schweiz myswitzerland.com
Diese Reise wurde unterstützt von Schweiz Tourismus.
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