von Oliver Abraham
Leba, Polen. Der Frost kam früh, in der Luft liegt der Geruch nach Schnee. Und der nach Holz- und Kohlenfeuer. Nach dem Sturm der vergangenen Tage ist es fast windstill und der Rauch steht gerade über den Kaminen.
Sanftes Morgenlicht lässt ersten Schnee schimmern; fernes Hundegebell, ein scharfer Vogelruf im Himmel. Es ist einsam im Hinterland der Ostsee westlich von Danzig.
„Die Ostsee liegt still, sanftes Plätschern allenfalls“
Kein Rauschen wie sonst. Dröhnende, donnernde Brandung – das war gestern noch, die Tage davor und morgen vielleicht schon wieder. Der Frost hat die Feuchtigkeit aus der Luft und der Erde ausgefroren, doch ein eisiger, hoher Nebel hält sich und die Sonne scheint fahl. Meer und Landschaft in zartem Pastell: hell der Sand, gelb der Strandhafer, blaugrau die See.
„Ein Augenblick des Innehaltens, eine Atempause nur“
Ein Tag, an dem man es wagen kann zu wandern von Czolpino nach Leba, fast zwanzig Kilometer Küste und ohne eine Chance, unterwegs abzubrechen. Das geht nicht, dorthin führen keine Wege, da ist niemand mehr. Halbe Strecke heißt, den Point of no Return passiert zu haben. Der Fahrer verabschiedet sich am gefühlten Ende der Welt und die Schritte knirschen im Reif, krachen in gefrorenen Sand.
Der Weg aus dem Wald ans Wasser windet sich durch die Dünen, schwer haben es die Schritte, denn tief ist der Sand. Kiefern stehen im Gegenlicht einer frühen Sonne und sind scharf wie ein Scherenschnitt, vom Wind verborgen sehen sie aus wie seltsames Bonsai.
„Zäh und zeitlos, märchenhaft“
Im Sommer riecht es hier nach Sandstaub und Kiefernharz, heute Morgen nach kaltem Meer, frisch und klar. Diese sonderbare, melancholische, Stimmung ist auch der Erinnerung an frohe Sommertage, an den unbeschwerten Badeurlaub an Polens Sonnenküste, geschuldet. Kaum ein halbes Jahr ist es her, als die Idee entstand, hier einmal in winterlicher Einsamkeit zu wandern.
Leicht und unbeschwert ist auch die Stimmung an diesem Morgen.
„Ein seltsames Losgelöstsein in der Sanftheit von Form und Farbe“
Die Motorengeräusche verstummen, das Mobiltelefon wird vielleicht bald keinen Empfang mehr haben. Und endgültig ist der Abstand vom Alltag gewonnen. Kälte prickelt im Gesicht, statt Sand. Pfützen am Strand sind gefroren und tragen den Wanderer an die Kante.
„Das milchige Licht lässt den Reif, den verwehten Schnee, den gefrorenen Schaum schimmern“
Der Sturm der vergangenen Tage hat Baumstämme auf das Ufer geworfen, Dünen haben meterhohe Abbruchkanten, die Gewalt der Natur ist gegenwärtig auch in dieser Aufgeräumtheit eines weiten, endlos wirkenden Strandes, der stillen Seen, diesem frischen, klaren Morgen.
Links liegt die Ostsee und rechts hinter den Dünen der große See von der Ostsee abgeschnitten. Zwischen diesen Wassern liegt der dünne Nehrungshaken, kaum vierhundert Meter breit.
„Alles unterliegt allein dem Regime von Wind und Wellen“
Der Durchbruch, und eine Brücke, befindet sich bei Leba. Das Gebiet ist Nationalpark und darf nur auf ausgewiesenen Wegen betreten werden, so auch die Dünen ausschließlich auf genehmigtem Pfad. Was bleibt, ist die Wasserkante. Es ist wichtig, sich unmittelbar vor einer solchen Tour über die aktuellen Zustände und vor allem über die (Naturschutz)-Regeln zu informieren. Schnell haben die Schritte ihren Rhythmus gefunden.
„Nach Osten, immer nur nach Osten“
Alles, was hier unterwegs ist, ist das auf einem sehr schmalen Korridor. Und das ist eine interessante Tatsache: Immer wieder sind Spuren im Schnee zu sehen, Fährten von irgendwo nach Nirgendwo. Frisch, aber schon seltsam verloren.
Große Trittsiegel sind es nicht. Aber das Gedankenspiel Was wäre wenn… ist schön, macht die ersten Kilometer spannend, ist aber sinnlos, denn gewiss ist jedes Tier längst in Deckung hinter den Dünen oder schon fort. Die Vielfalt an Tieren im Slowinzischen Nationalpark ist groß – vom Seeadler bis zur Robbe reicht das Arteninventar.
Jetzt im Winter ist das Vogelleben spannend, da Gäste aus der Arktis zum Überwintern gekommen sind.
„Die Dünen sind auf permanenter Wanderschaft“
Sie sind nicht aufzuhalten und haben in historischer Zeit Siedlungen unter sich begraben. Am Nachmittag nimmt der Wind zu und sein leises Heulen klingt melancholisch. Je stärker es stürmt, desto flacher sind die Dünen und desto schneller sind sie unterwegs.
Im Sommer ragen die Dünen bis zu vierzig Meter auf, im Winter (dann ist es stürmischer) zehn Meter weniger. Schien es am Morgen so, also ob der Frost die Sandberge fixiert hätte, so kommt im Laufe des Tages Bewegung auf die Bühne. Sand beginnt zu rutschen und er scheint leise zu singen. Wie eine Armee Gespenster stehen tote, bleiche Bäume vor den Dünen.
„Die dürren Äste klagend in den Himmel gereckt – sie werden bald schon im Sand ertrinken“
Aus den Schatten der Dünentäler wabert eisiger Nebel und die tiefstehende Sonne verleiht den Sandrippeln und verwehtem Schnee kräftige Konturen. Im Gegenlicht glitzern feinste Eiskristalle und in der Luft windstiller Dünentäler scheinen sie zu schweben und verleihen der Gegend einen magischen, märchenhaften Glanz. Auf dem Binnensee sind mit dem Fernglas Schwäne zu sehen, ihr weißes Gefieder strahlt wie Schnee. Immer wieder sind obskure Vogelrufe zu hören.
„Die Sinne sind längst geschärft, die Instinkte hellwach“
Ob es ein Geruch war, unterschwellig, ein Geräusch, kaum zu hören? Gespannte Wachsamkeit und Gänsehaut nicht nur von der Kälte.
Bald dies: der Boden unter den Bäumen ist umgepflügt – Wildschweine. Gespürt bevor gesehen. Solche Touren machen Kopf und Körper wieder klar. Der Weg ist lang, Schritt um Schritt, Stunde um Stunde geht es auf Leba zu.
Bei Sonnenuntergang muss man aus dem Nationalpark heraus sein. Das ist jetzt der Fall und die immer tiefer stehende Sonne modelliert jede kleinste Unebenheit und lässt das aufleuchten, nach dem wohl jeder Wanderer am Wasser heimlich späht.
„Bernstein, das Gold des Nordens“
Es stimmt schon: an diesem Tag passt alles – kaltes Wasser (dann schwimmt er in der salzarmen Ostsee wenigstens ein wenig auf), vorheriger Sturm aus Nordost (bringt Bewegung ins Meer), kaum Menschen am Strand unterwegs (erhöht die Chancen was zu finden), kleine Buchten geöffnet nach Nordost (das sind klassische Bernsteinfallen, dorthinein treibt es der Wind).
Der Nationalpark ist kurz vor Leba verlassen, nun kann man Bernstein suchen. Und es ist Ruhe, sich darauf zu konzentrieren.
An den Ästen angespülter Bäume hängen Eiszapfen, Treibholz liegt herum, Tang und Muscheln und dieses kleine Zeug, das wie Kohlengrieß aussieht.
„Wo, wenn nicht hier? Wann, wenn nicht jetzt?“
Und tatsächlich leuchtet bald ein Stückchen Bernstein. Es ist nicht viel, es nicht groß, es nicht einmal sonderlich hübsch. Aber es ist meins! Das erste Stück Bernstein ist gefunden und das Fieber ausgebrochen. Suchen, suchen, immer weiter suchen. Hosen nass?
„Egal. Weiter wühlen“
Schnell verliert man bei leichter Gier den Blick für die anderen Schönheiten an dieser wilden Winterküste: das von Wind und Wellen polierte und geformte Stück Treibholz, die geschwungenen Linien aus Eisgries und Schnee wie erstarrte Ostseewellen. Stattdessen hat man das Handling raus, hat den Blick für Bernstein, hat bald ein paar Stückchen in der hohlen Hand.
Das mit dem Leuchten des ersten Stückes übrigens war ein großes Glück, oft hat Bernstein eine Borke und sieht unscheinbar aus. Dieses aber ist wie poliert, fast orange. Und kriechend geht es voran.Die Nacht ist angebrochen.
In Leba ist es dunkel und wieder ist es bei der Erinnerung an den Sommer eine seltsam verlorene Stimmung. Ein Schaufenster aber strahlt in die beginnende Nacht. Es ist das eines Juweliers und in der Auslage liegt moderner, geschmackvoller Schmuck aus Bernstein. Ein Schatz wie im Traum und ziemlich schöne Stücke sind das.
„Die frohe Freude, selbst etwas gefunden zu haben, gibt ein wärmendes Gefühl“
Auch, diese lange Tour geschafft zu haben und ein Bick auf diesen schönen Bernsteinschmuck. Ein Gefühl von Geborgenheit gewiss auch deshalb, weil aus dem Fenstern des stilvollen, schönen Hotels Zamek Leba, (früher hieß es Neptun) das Licht in die Nacht fließt. Ein angenehmes Haus mit Eleganz und seit mehr als 130 Jahren thront es auf einer Düne über der Ostsee. Drinnen erst klassische, später loungige Musik, die Bar hat – auch wegen der maritimen Motive – englische Clubatmosphäre, Cognac und guten Single-Malt auch.
Die Ostsee ist nicht mehr still, sie stürmt schon wieder. Der Wind drückt an die Fenster, Schnee wirbelt vorbei. Jurata ist die Göttin des Meeres. Und vielleicht wirft sie wieder etwas an den Strand. Für denjenigen, der sich auf sie einlässt da draußen.
- Information:
Polnisches Fremdenverkehrsamt: www.polen.travel
Leba: www.lotleba.pl
Hotel (als ein Beispiel für eine Unterkunft): www.zamekleba.pl
Nationalpark: www.slowinskipn.pl - Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Unser Autor war vor Corona an der polnischen Ostseeküste unterwegs, diese Reise wurde seinerzeit unterstützt vom Polnischen Fremdenverkehrsamt.