von Oliver Abraham
In der Nacht kam dann der Orkan. Schon am Nachmittag schwere See vor Helgoland, die Wolken zerrissen, die Wogen hoch, Gischt fliegt. Die Grenzen sind verwischt; nur Wasser, Wind und Wellen. Düsternis folgt auf Dämmerung, die Brandung ist weiß und wütend.
Vor Helgoland liegt die Insel Düne und die Kegelrobben sind jetzt unter sich. Der Leuchtturm sendet sein einsames Licht über das tobende Meer, drüben auf Düne ist schwach und schwindend das Quermarkenfeuer kaum mehr zu erkennen.
Obwohl so wild und wüst wie es an diesem Wintertag ist, die Robben von der Düne findet dort das, was sie für die Geburt ihrer Jungen brauchen: Ruhe und Schutz vor Flut und Hochwasser. Am kommenden Morgen, das Unwetter ist längst fort, schwappt das Meer noch in langen Wogen zwischen den Inseln. Die Fähre fährt hinüber auf das kleine Eiland. Strandhafer in der Farbe von Messing wogt auf den Dünen.
Wohin? Wo lang? Vorsichtig jetzt.
Sie sind hier, ganz gewiss. Dort, wo das Meer auf den Strand läuft, klappern die Kiesel. Hier steht das Quermarkenfeuer, das wie ein kleiner Leuchtturm aussieht. Und hier liegen massige Leiber – grau, beige, gefleckt. Es sind Kegelrobben und diese Insel, mit Namen Düne und die kleine Schwesterinsel von Helgoland, ist ihre Kinderstube. Dort kümmern sich Ranger der Gemeinde Helgoland und Mitarbeiter des Vereins Jordsand um die Kegelrobben. Und um die Gäste, es gibt Informationen und Führungen.
Nirgendwo sonst in Deutschland kommen so viele Kegelrobben zur Welt wie hier: „Im Winter 1996/97 wurden hier erstmals Kegelrobben geboren, seitdem steigt die Zahl, im vergangenen Winter waren es mehr als 650, die diesjährige Wurfsaison begann in der zweiten Novemberwoche“, bilanziert Rebecca Ballstaedt vom Verein Jordsand. Die Tiere kommen zu hunderten auf die Insel. Wo sonst kann man das größte Raubtier Deutschlands so gut beobachten!
Für eine gefahrlose Robbenbeobachtung (für Mensch und Tier) aus sicherer Distanz gibt es einen Wintererlebnispfad und einen Panoramaweg. „An Tagen mit Hochwasser können Teile des Strandes so stark besetzt sein, dass kein verantwortungsvolles und gefahrloses Betreten mancher Bereiche möglich ist“, sagt Rebecca Ballstaedt , „die Anzahl der neugeborenen Robben wird ab einem gewissen Zeitpunkt so groß, dass die Nutzung des Wintererlebnispfades verbindlich wird.“ Die Ranger der Gemeinde und die Mitarbeiter des Vereins Jordsand informieren, zum Beispiel an der Fährkasse zur Düne, über die aktuelle Wegeführung.
Die Leute vom Naturschutz mahnen zur Rücksichtnahme und großer Vorsicht: Zwar sehen die Tiere träge aus, wie sie schwer und vermeintlich faul an Land liegen, aber „… sie schaffen aber einen Sprint von bis zu 20 Stundenkilometern aus dem Stand“, mahnt Rebecca Ballstaedt. Drei, vier Hopser und das Tier ist plötzlich da. Bei mehr als 300 Kilogramm Gewicht und einem Raubtiergebiss kann das für den Menschen unter Umständen eine ziemlich gefährliche Sache werden. Ein Bulle sprintet los, hält inne, starrt den Wanderer an. Neben den Geburten findet im Winter auch die Paarung statt.
„Bullen und Kühe sind dann besonders sensibel und reizbar“, erklärt Rebecca Ballstaedt, „halten Sie auch deshalb unbedingt den Abstand von mindestens 30 Metern zu den Tieren ein und begeben Sie sich nicht in die Nähe von Bullenkämpfen, in der Paarungszeit sind sie aggressiv!“
Auf einer Düne liegt ein anderer, ebenso mächtiger Bulle, er beobachtet wachsam die Umgebung. Und den Menschen, der soeben den Strand betritt, hat er sicher auch im Blick. Nicht stören, nicht belästigen, immer Abstand halten. Leute vom Naturschutz haben schon Besucher eingesammelt, die sich an Robben anschlichen, um ein Selfie zu machen. Der Bulle schaut den Menschen hinterher und hat das Weibchen im Blick, das soeben mit einem Jungen niedergekommen ist. Nicht immer sieht der Nachwuchs weiß und kuschelig aus wie auf schönen Bildern, erst recht nicht nach der Niederkunft, dann oft blutbefleckt und gelb verschmiert.
Ein Idyll ist das nicht zwangsläufig, sondern oft raue Lebenswirklichkeit. Natur.
Der Bulle, der die Weibchen so sorgsam bewacht, ist nicht der Erzeuger des Neugeborenen. Er wartet nur darauf, das Weibchen erneut zu begatten. „Innerhalb von zwei Wochen beginnt der Zyklus von Neuem. In der dunklen Jahreszeit sind auf der Düne Kegelrobben jeden Alters zu sehen, dann gehen sie wieder auf Wanderschaft in der Nordsee. Und gewöhnlich kehren die Kühe zur Niederkunft dorthin zurück, wo sie selbst geboren wurden“, sagt Rebecca Ballstaedt. Die Bullen hinterher. Vorsichtig geht es Richtung Strand. Aber wo, wohin am besten?
Unterhalb der Dünenkante, und möglichst weit vom Wasser weg, liegen meist die Mütter und säugen ihre Jungen. Also dort nicht. Aber zu nah am Wasser auch nicht. Denn wer weiß schon, was da auftaucht und sich an Land wirft. „Schneiden Sie den Tieren nicht den Zugang zum Wasser oder vom Wasser zum Land ab!“, mahnt Rebecca Ballstaedt. Die Wellen werden wütender und aus der Brandung kann jederzeit eine Robbe … Man ist gespannt; die Tiere zu sehen, ja, aber vor allem, Ihnen nicht zu nahe zu kommen.
Überall und jederzeit kann eine Robbe auftauchen, auch aus den Dünen. Also Augen auf! Was ist, wenn der Abstand von mindestens dreißig Meter nicht eingehalten werden kann, wenn man dazu durch die geschützten Dünen gehen müsste? „Dann kehrt man eben um!“ Oder nimmt gleich den auch zur Beobachtung von Kegelrobben installierten Wintererlebnispfad. Wer sich an die Regeln hält, hat normalerweise nichts zu befürchten. Aber: Es ist freie Wildbahn und kein Tierpark. Es stellt sich nicht die Frage, ob man welche sieht, sondern wie man es am sichersten tut. In den Gruppen geht es bisweilen rabiat zu.
Plötzlich ist im Wind ein Heulen zu hören, lauter als die Brandung sogar, es klingt wie ein Quietschen. Soweit es sich beobachten lässt, stammt das wohl von einem bedrängten Weibchen, das auf einen Abstand zwischen sich, ihrem Jungen und den Bullen achtet. Und die machen schon Druck. Später liegt eine weitere Gruppe von zwanzig, dreißig Tieren auf den Kieseln. Weibchen mit Nachwuchs und Halbwüchsige sind darunter. Ein Bulle sprintet plötzlich los und umrundet die friedlich daliegende Gruppe, scheint sie fast aufzumischen. Manch Jungtier hält sich aus gutem Grund abseits und liegt versteckt in den Dünen.
„Ein eigener Spaziergang am Strand wird wohl nur noch zu Beginn und zum Ende der Wurfzeit Anfang November und dann wieder etwa Mitte Januar möglich sein“, meint die Meeresbiologin Rebecca Ballstaedt, „es sind inzwischen einfach zu viele Robben am Strand, um die Sicherheit der Besucher zu gewährleisten.“
Bei bis zu 1.300 Tieren zur Hoch-Zeit kann das einfach zu gefährlich werden. Die genehmigten und frei zugänglichen Wege indes führen aber zu Stellen, von denen man die Tiere sehr gut, vielleicht sogar noch besser als vom Strand aus, beobachten kann – zum Beispiel von den Dünen oberhalb einer Bucht. Und mancher Strandabschnitt kann möglicherweise noch immer betreten werden. Auch hier gilt: vorher erkundigen und wenn möglich an einer Führung teilnehmen.
„Insgesamt jedoch ist dieses Erlebnis eines, das in dieser Weise seines Gleichen sucht“, erklärt Rebecca Ballstaedt. „Für uns ist es, neben all der zwingend notwendigen Managementarbeit, die wir gemeinsam mit der Gemeinde Helgoland durchführen, etwas sehr besonders, Helgolands Besuchern zu dieser Jahreszeit dieses außergewöhnliche Naturschauspiel näherzubringen und sie wieder ein Stück mehr zurück in die Natur zu führen.“
Warum ist Düne bei Helgoland ein so guter Ort für den Kegelrobben-Nachwuchs? Auch deshalb, weil sie in der hohen See, dem Jagdgebiet der Tiere, liegt; ihrem Lebensraum, sie sind in der gesamten Deutschen Bucht unterwegs. Und seit langem dürfen sie nicht mehr bejagt werden. Ob auch entsprechende Änderungen von Fischereiquoten sowie Ausweisung von Schutzzonen rund um Windparks zu einem Anstieg der Robben-Population geführt haben, ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Robbenjunge sind bei der Geburt zwar schwimmfähig, können sich aber nicht lange über Wasser halten.
„Ihr Babyfell saugt sich im Wasser schnell voll und erschwert das Schwimmen, auch die Wärmeisolation ist dann nicht mehr gegeben“, erklärt Rebecca Ballstaedt, „sie brauchen also einen Platz, der sicher, also hoch genug, ist vor Hochwasser oder Sturmflut. Und die Jungen müssen so lange gesäugt werden, bis sich ihr Schwimmfell ausgebildet hat.“
Ein paar Wochen nur und das Junge ist durch die extrem fette Muttermilch von den 15 Kilogramm Geburtsgewicht auf rund 50 Kilogramm angewachsen. „Dann ist es schwimmfähig und fett genug. Ist das Jungtier erst einmal in der Nordsee, verliert es die Bindung zu seiner Mutter, Fische fangen kann es instinktiv“, erklärt Rebecca Ballstaedt. So lange liegen sie beieinander auf Helgolands kleiner Schwesterinsel und zumeist tun sie das, wie eine weitere Gruppe von vierzig, fünfzig Tieren zeigt, in aller Ruhe. Obwohl die Bullen immer und überall lauern. Die See rollt in mehreren Staffeln heran, der Wind nimmt zu, ein paar Robben verschwinden im Wasser. Ihre Blicke aber, die spürt man im Rücken.
Informationen: www.jordsand.eu / www.helgoland.de So gibt es zum Beispiel Wissenswertes zu den Robben, den Besuchs- und Erlebnismöglichkeiten im Winter und auch einen Wegeplan auf der Insel Düne.
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Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Unser Autor besuchte Helgoland vor Corona, die Reise wurde seinerzeit von Nordsee-Tourismus www.nordseetourismus.de unterstützt. Die aktuellen Begebenheiten wurden telefonisch erarbeitet. Ein eindrucksvolles Erlebnis war die Zeit auf der Insel Düne aber schon damals.