Von Oliver Abraham

Grindelwald/Kanton Bern. Die Zahnradbahn klettert durch Tunnel und Galerien. Es geht rauf zum höchstgelegenen Bahnhof Europas – auf dem Jungfraujoch, in der Schweiz, auf über 3.450 Meter und gebaut im Bauch der Berge. Ein behütetes, überaus beliebtes Ziel. Und ein einzigartiges Refugium für Ausflügler, das mit Restaurants und Geschäften, mit Ausstellungen und Erlebnisangebot kaum einen Wunsch offen lässt.

Am Jungfraufirn wird der Aletsch-Gletscher geboren

Unterwegs sein dort, wo Gletscher geboren werden: Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Unterwegs sein dort, wo Gletscher geboren werden: Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham

Für einen Hauch von Abenteuer – und sei es, dieses Bild der Berge, atemberaubend für manch einen Gast schon allein der Höhe wegen, durch die Panoramascheiben zu bestaunen. Stollen und Kavernen schaffen James-Bond-Atmosphäre, die modernen Gebäude im, am und auf dem Berg geben der Anlage das Ambiente von Raumstation. So weit weg vom Rest der Welt. So schroff, so kalt, so lebensfern. Da draußen.

Ein schneebedeckter Weg führt von der Bahnstation am Jungfraujoch zur Mönchsjochhütte. Foto: Oliver Abraham
Ein schneebedeckter Weg führt von der Bahnstation am Jungfraujoch zur Mönchsjochhütte. Foto: Oliver Abraham

Ein markierter Weg führt zur Mönchsjochhütte

Der Ausgang auf die Walliser Seite führt gleich auf den Gletscher und ein schneebedeckter, markierter Weg zur Mönchsjochhütte (auf ca. 3.650 Metern, eine knappe Stunde gemütliche Gehzeit, gutes Essen und Trinken), der Aufzug führt zur Aussichtsplattform unterhalb der auf dem Berg thronenden meteorologischen Station. An der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Wallis gelegen, bedeutet dies auch einen Ausblick auf die Parade der 4000er: darunter Jungfrau und Mönch sowie Eiger (fast ein 4000er).

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Stollen im höchsttgelegenen Bahnhof Europas auf dem Jungfraujoch. Foto: Oliver Abraham

Auch im August kaum über null Grad plus

Mit Schnee ist hier das ganze Jahr zu rechnen. Es ist eine wilde Welt: Nur noch Fels und Eis. Nur Wolken und Wind, der hier mit Höchstgeschwindigkeit von 260 km/h rast. Die Temperatur fällt in mancher Winternacht auf knapp 40 Grad unter Null. Auch im Juli und August liegt die Tagesdurchschnittstemperatur bei kaum einem ganzen Grad Plus.

Eine Welt, in der der Mensch nur Gast auf Zeit sein kann und wer die abgesteckten Wege und Orte außerhalb der Bahnstation und ihrer markierten Umgebung verlässt, begibt sich ohne Ausrüstung und Erfahrung unweigerlich in Gefahr. Indes: Wer Hochgebirge mal kurz erleben will und sommers im Schnee spielen möchte, der ist hier unter Aufsicht und an genehmigter Stelle schon ganz gut aufgehoben.

Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham

Hier wird der Aletsch geboren

Unterwegssein aber dort, wo es wild wird und Gletscher geboren werden – das ist nur denjenigen vorbehalten, die es wirklich können oder sich mit etwas Mut und Kondition einem Bergführer anvertrauen. Denn hier liegt der Jungfraufirn: Und der wird zu einem der großen Eisströme, die den größten Gletscher der Alpen bilden – den mit knapp 23 Kilometer Länge und fast 80 Quadratkilometer Fläche noch immer mächtigen Großen Aletsch-Gletscher.

Winterliches Hochgebirge im Sommer. Foto: Oliver Abraham
Winterliches Hochgebirge im Sommer. Foto: Oliver Abraham

Eisnebel hängt in der Luft

Hier auf über 3.000 Meter Höhe, also dort, wo über dem Gletscher mehr Schnee fällt als wieder abtaut und die Bilanz damit positiv ist, liegt sein Nährgebiet. Weiter unten, wo die Sommer wärmer sind und weniger Schnee fällt als liegenbleibt, ist das Zehrgebiet – dort schmilzt der Gletscher. Eisnebel hängt in der Luft und Schneeschauer wirbeln vorbei, der Wind schiebt die Wolken vor das weltberühmte Dreigestirn von Jungfrau, Mönch und Eiger, schiebt sie wieder weg.

Der Jungfraufirn wird zum Eisstrom und bildet den Aletsch-Gletscher. Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Der Jungfraufirn wird zum Eisstrom und bildet den Aletsch-Gletscher. Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham

Tour auf den Jungfraufirn

Die Schritte knirschen im frischen Schnee und harter Schnee bricht unter den Bergschuhen, mitunter sinke ich bis zu den Knien ein. Ich treffe Bergführer Stefan Urfer und wir starten zur Tour auf den Jungfraufirn. Ohne Ausrüstung und Einweisung geht nichts: Achterknoten schlingt er aus dem Seil und Karabiner klicken, ich bekomme einen Eispickel in die Hand gedrückt und Spikes unter die Bergstiefel montiert, wir sind eine Zweier-Seilschaft, an Hüfte und unter den Armen gesichert; wir sind uns gegenseitig eine Lebensversicherung.

Bergführer Stefan Urfer. Foto: Oliver Abraham
Bergführer Stefan Urfer. Foto: Oliver Abraham

Das straffe Seil

Damit dass so bleibt, muss das Seil zwischen uns immer gespannt bleiben. Denn fällt einer in eine Gletscherspalte, kann der andere den Absturz nur mit einem von vornherein strammen Seil stoppen (sonst flöge auch er hinterher). Ich folge Stefan nur auf seiner Spur, Schritt für Schritt und keinen daneben, und achte peinlich auf das straffe Seil. Es sei denn, Stefan erlaubt es, zu ihm aufzuschließen. Wie kannst Du mich aus einer Spalte herausziehen?

„Ich baue mir aus den Seilen und Rollen einen Flaschenzug!“

Weil ich so etwas nicht kann – wie kriege ich dich da raus? „Ich baue mir aus dem Seil, das ich zusätzlich dabei habe und mit dem, an dem ich hänge, eine Leiter aus Schlaufen.“ Und im Falle des Fallens sofort den Eispickel als Bremse einschlagen. Dann weiß ich das.

Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham

Schnee wird zu Firn

Stefan, am Berg duzt man sich, erklärt die Zusammenhänge: „Zuoberst liegt Schnee, der hier auch im Sommer fällt. Der Altschnee wird immer fester. Durch Auftauen und Gefrieren verdichtet er sich über die Jahre immer stärker und wird zu Firn.“ Dabei nimmt die Dichte um das rund 20fache zu und unter dem zunehmenden Druck des über die Jahre nachfolgend fallenden Schnees bildet sich irgendwann daraus Eis. Und das beginnt schließlich zu fließen, weil das immense Eigengewicht das Eis an der Grenze zum Gestein am Untergrund schmelzen lässt – es bildet sich mit zerriebenem Stein eine schmierige Schicht, auf der der gesamte Eisschild bei Hangneigung rutschen kann. Wie hier beim Jungfraufirn zwischen dem Trugberg und dem Kranzberg.

Das Eis am Jngfraufirn ist in ständiger Bewegung. Foto: Oliver Abraham
Das Eis am Jngfraufirn ist in ständiger Bewegung. Foto: Oliver Abraham

Eis in ständiger Bewegung

Das Eis des Aletsch-Gletschers ist bis zu 800 Meter mächtig, an der schnellsten Stelle bewegt er sich mit rund 200 Meter pro Jahr. Und weil das Eis in Bewegung ist, haben sich Risse und Spalten gebildet. Wir sind längst auf dem Eisstrom – sehen schon die Bruchzonen unterhalb, gehen über noch ungestörte Bereiche. „Das Eis ist in ständiger Bewegung, der Gletscher fließt unter seinem eigenen Gewicht ganz langsam zu Tal“, sagt Stefan, „er gleitet über Bergrücken; und zweihundert, dreihundert Höhenmeter tiefer bricht er an diesen Schwellen und bildet die Spalten.“ Liegt Schnee auf diesen Spalten und ist dieser fest, können wir darüber gehen.

Alter Schnee trägt schon ab zehn Zentimetern. Foto: Oliver Abraham
Alter Schnee trägt schon ab zehn Zentimetern. Foto: Oliver Abraham

Alter Schnee trägt besser

„Eine Brücke aus frischem Schnee hält ab einer Dicke von rund einem halben Meter. Alter und damit fester Schnee trägt schon ab einer Dicke von zehn Zentimetern – früh am Morgen halten alle Schneebrücken am besten.“  Ich behaupte nicht, hier und heute völlig unbefangen unterwegs zu sein. Aber spannend ist es schon. Und es macht neugierig.

Hundertprozentig weißt du es nie am Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Hundertprozentig weißt du es nie am Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham

„Hundertprozentig weißt du das nie!“

„Du kannst über Spalten gehen, ohne es zu merken“, sagt Stefan und weist mich an, ihm zu folgen, „… hundertprozentig weißt Du das nie!“ Vielleicht will man das als Gast auch gar nicht wissen. Er geht voran und blickt über das sich schier endlos ausbreitende, talwärts sanft geneigte Weiß, über den Gletscher. Nur er, der erfahrene Bergführer, erkennt heikle, gefährliche Stellen, die wir besser umgehen oder vor denen wir sogar umkehren sollten. Er sucht nach Mulden, nach Vertiefungen, nach flachen Gräben; er testet Schnee, stochert mit dem Stock. Stefan sucht nach dem Weg hinein in die Bruchzone. Und der ist jedes Mal ein anderer.

Eine wilde Welt, Fels und Eis. Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Eine wilde Welt, Fels und Eis. Mit Bergführer Stefan Urfer auf Tour in Richtung Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Inseln im Eisstrom

Der Trugberg und der Kranzberg ragen als dunkle Schatten aus der Ebene heraus, liegen wie Inseln im Eisstrom. Die offene, von Jungfrau, Mönch und Eiger bewachte Arena und die Abschnitte, wo sich Schnee sammelt und Firn bildet, später Eis, sind längst außer Sicht. Wir gehen mit dem Eisstrom abwärts. Immer häufiger ist der Boden, nun auch für Laien erkennbar, von Spalten und Rissen durchzogen, sie weiten sich bald auf zu Schluchten. Zu Canyons im Eis, in die hinein Stefan einen Weg sucht. Wir sind im Eis, in seiner räumlichen Ebene und in seiner zeitlichen Phase. Es sind unbegreifliche Dimensionen. Vorsichtig tastet sich Stefan einen Hang hinunter, bricht ab, kehrt um, sucht einen anderen Weg. Ich achte darauf, ihm soweit zu folgen, dass das Sicherungsseil immer stramm ist.

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Häusergroße Eisblöcke türmen sich. Foto: Oliver Abraham

Wir steigen hinab. Eisblöcke groß wie mehrstöckige Häuser stehen herum, stehen durcheinander, schräg und schief, wie ein Turm der eine und wie eine Mauer die anderen, wie eingefroren für einen Augenblick in der Zeit und wie im Zusammenbruch steckengeblieben. Innehalten im Prozess ewiger Veränderung und wie ein Zerfall in extremer Zeitlupe. Vor uns ragt eine zerborstene Wand auf, es sieht aus wie gestrandete Eisberge in den sanften Wellen am Ufer eines weißen, erstarrten Ozeans aus Schnee.

Nebel verdichtet sich

Plötzlich verdichtet sich der Nebel und es beginnt zu schneien – dreidimensional unterwegs aber für manchen Augenblick gefühlt ohne Sicht: vor und zurück, links und rechts, hoch und runter im konturlosen Weiß. Wir sind unterwegs in Raum und Zeit, aber es fühlt sich sonderbar an; wie angehalten, wie schwebend, wie aufgehoben. Unheimlich auch deshalb, weil das scheinbar Stabile in unablässiger Veränderung ist. Ewige Transformation als einzige Konstante. Schaurig, schön. Dann ist ein unheimliches Grollen zu hören; ein Stöhnen, ein Ächzen, ein seltsam sphärisches Kreischen.

Eisabbruch, nicht in der Nähe. Foto: Oliver Abraham
Eisabbruch, nicht in der Nähe. Foto: Oliver Abraham

Noch immer sind wir am Hang einer tiefen Schlucht im Eis, haben uns aber zur Umkehr entschlossen. Stefan hält sofort inne und versucht zu orten, woher es stammt. „Das wird ein Eisabbruch sein … aber nicht hier in unserer unmittelbaren Nähe; vermutlich einen Kilometer weiter oben – am Trugberg oder am Kranzberg.“ Wir gehen auf steilem Weg hinauf, zurück auf den Gletscher.

Ein Bilderbuch der Eisgeschichte

Stefan wagt sich an den Rand einer senkrecht abfallenden Spalte, die steht dort wie ein Bilderbuch der Eisgeschichte: „Die Schneeschichten sind unterschiedlich mächtig, man erkennt, ob es ein schneereiches Jahr war oder nicht“, erklärt er, „diese dünnen Lagen in beiger oder bräunlicher Farbe sind kaum zehn Zentimeter breit – das ist Schnee, der mit Saharastaub versetzt ist, der wurde herangeweht.“ Die Wand aus Eis, Firn, Schnee ist gemasert. Geschichtet, gebogen, gebrochen und verworfen zwischen reinem Weiß sind Streifen – auch creme, rost, rötlich. Zu erkennen sind Schlieren darin, wie Tränen auf dem Eis: „Diese Schmelzfiguren entstehen durch Tauprozesse im Schnee, die Staubablagerungen verdichten sich hier.“          

Eine Höhle im Gletscher. Foto: Oliver Abraham
Eine Höhle im Gletscher. Foto: Oliver Abraham
Eis leuchtet blau ein Aquamarin

Während des Wegs zurück auf das Plateau entdeckt Stefan eine Höhle im Gletscher. Wo Licht hineinfällt, leuchtet das Eis blau wie ein Aquamarin oder Saphir; azur, indigo oder türkis – je nachdem, wie stark der Lichteinfall ist und wie dick das Eis. Ein faszinierendes Farbspiel ist das. Vor dieser Grotte im Gletscher hängen Eiszapfen und undenkbar ist es, dort hinein zu klettern. Der Schlund in die eisige Tiefe ist ohne erkennbares Ende. Die Höhlenwände schimmern in dem faszinierenden, eigentümlichen Blau des Gletschereises. Scharfe Zacken aus hartem Eis neben sanften Rundungen aus angewehtem Schnee. Unergründlich, so einladend wie abweisend.

Das eigentümliche Eis-Blau am Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Das eigentümliche Eis-Blau am Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Der Gletscher grollt

Wir gehen jetzt wieder auf einer Ebene, auf dem Eis, die großen Schluchten bleiben zurück. Aber Spalten kreuzen unseren Weg, auch hier magisches Blau im endlosen Weiß. Es beginnt immer stärker zu schneien, wir gehen zurück. Und wieder ist dieses unheimlich tiefe rollende Grollen zu hören. Zu spüren wie ferner, mächtiger Donner. Und das Schneetreiben wird immer dichter. Eis wird das mal werden und leuchten wie ein blauer Edelstein. Wird hinunter fließen aus himmelhohen Berge und aus ewigen Winter. Wird wandern und schmelzen, wird verdunsten und wieder als Flocke fallen. Wird zu Eis und ist unterwegs in unaufhörlicher Transformation. Und wieder grollt der Gletscher.

Auf 3000 Metern Höhe liegt das Nährgebiet des Aletsch-Gletschers am Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham
Auf 3000 Metern Höhe liegt das Nährgebiet des Aletsch-Gletschers am Jungfraufirn. Foto: Oliver Abraham

Informationen:

Die beschriebene Tour setzt neben Kondition und Ausdauer für sechs Stunden Marschzeit und Erfahrung im Bergwandern jenseits der 3.000 Höhenmeter keine Erfahrungen im Bergsteigen voraus. Anbieter solcher Touren stellen in der Regel die notwendige Ausrüstung – nachfragen!

– Beispiel für einen Tourenanbieter: Schweizer Bergsportschule Grindelwald outdoor.ch

– Informationen zum Reiseland Schweiz: myswitzerland.com   

Alle Angaben ohne Gewähr. Dieser Bericht stellt keine Wertung untereinander und / oder gegenüber anderen Unternehmen, Personen, Waren oder Dienstleistungen o.Ä. dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Diese Reise wurde unterstützt von Schweiz Tourismus

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