Von Oliver Abraham
Vreden, Kreis Borken. Von der Kapelle führt ein verwunschener Weg ins Moor, nebelnass hängt der frühe Tag zwischen den Bäumen. Das klagende Gebimmel der Glocke wird leiser und ein fernes, seltsames Kreischen zerreißt die Stille. Ein Pfau, ein Fasan? Seltsame Vogelrufe locken tiefer hinein in das Zwillbrocker Venn – einem Moor, gelegen an der Grenze zwischen Münsterland und den Niederlanden. Doch nicht dies allein ist sonderbar.
Rosafarbene Flamingos im Moor „Zwillbrocker Venn“
Möwen tanzen wie Konfetti, Flamingos stehen im seichten Wasser
Möwen fliegen auf und tanzen wie Konfetti im Wind. Schwirrend, flatterhaft, wie Gespenster. Dunkle Eichen, dunkle Erlen, Nebel wabert über düstere Tümpel. Libellen – sie tragen Namen wie Teufelsnadel oder Augenstecher – hängen wie tot im Heidekraut und der Ruf des Kuckucks schallt durchs Wäldchen. Als sei´s nicht wie ein irrer Traum genug, stehen dort im seichten Wasser – rosafarbene Flamingos.
Flamingos im rosafarbenen Federkleid
Der Nebel beginnt sich zu lichten. Aus dem Wasser, es liegt still und schwarz, ragen die Stümpfe toter Bäume. Dazwischen schreiten zwei Flamingos seltsam synchron, gründeln nach Nahrung. Es sind surreale Bilder, die Szene wirkt wie eine verrückte Phantasie; zarte Vögel in rosa leuchtendem Federkleid in dem auf das Rohe reduzierten Morast und neben Ruinen ertrunkener Bäume, harte Kontraste.
Andere Vögel spreizen ihr Gefieder zum Trocknen, mit wehenden Federn stehen Flamingos im Wind vor drohend, dunklem Himmel. Andere fliegen ein und schreiten auf das Ufer, dort liegen die Nester. Zwei Vögel bespielen sich, vermutlich sind sie noch in der Balz, andere Flamingos beugen sich über ihre Brut und füttern, die Kleinen recken gierig ihre Hälse. Scharen von Lachmöwen fliegen undurchsichtige Manöver. Und die nächsten Regenschauer sind im Anflug.
Seit 40 Jahren gibt es Flamingos im Moor
Im Mai begannen zwanzig Flamingo-Paare mit der Brut, rund hundert dieser Vögel hielten sich im Frühjahr 2023 im Zwillbrocker Venn auf. Im vergangenen Jahr konnten 14 Jungtiere erfolgreich großgezogen werden, die Population befinde sich damit in einer stabilen Phase des Wachstums. Vor rund vierzig Jahren wurden in diesem Moor erstmals Flamingos beobachtet, wie sie erfolgreich brüteten.
Drei Arten Flamingos
„Was diese Vögel ausgerechnet in das Zwillbrocker Venn verschlagen hat, wissen wir nicht“, sagt Dietmar Ikemeyer, „…woher sie ursprünglich stammen, auch nicht.“ Ikemeyer leitet die Biologische Station und berichtet davon, dass drei Arten Flamingos im niederdeutschen Sumpf leben: „Solche, die üblicherweise in Chile und Kuba vorkommen, und die sogenannten Großen Flamingos – die leben zum Beispiel an der spanischen und französischen Mittelmeerküste.“
Bis zu 500 Kilometer an einem Tag fliegen
Gut möglich, dass letztere es auf natürlichen Wegen ins Münsterland geschafft haben, denn Flamingos können an einem Tag bis zu 500 Kilometer weit fliegen. Die aus Süd-Amerika und der Karibik können nicht von allein hergekommen sein. Ikemeyer: „Vermutlich sind sie aus Tierparks ausgebrochen.“ Die Flamingos leben nicht das ganze Jahr im Zwillbrocker Venn. „In der Regel kommen sie im März aus ihren Winterquartieren nahe der niederländischen Nordseeküste, im Rheindelta oder am Ijsselmeer, und beginnen dann hier im Moor mit der Balz und ihrem Brutgeschäft“, erklärt Dietmar Ikemeyer, „je nach Erfolg bleiben sie bis in den Sommer und kehren dann zurück.“
Ungestörter Lebensraum im Nordwesten Deutschlands
Zu kalt sei es den eigentlich doch subtropischen Vögeln im Nordwesten Deutschlands übrigens nicht, „…die Temperatur spielt nicht die wichtigste Rolle. Es ist vielmehr das Nahrungsangebot und ein ungestörter Lebensraum während Balz und Brut“ so Ikemeyer, „und zu Fressen finden sie im Moor sowie den angrenzenden Feuchtgebieten und Wiesen eben genug, das Zwillbrocker Venn ist mit seinem flachen, nährstoffreichen Wasser ideal.“
Sicher auf der Insel im Moorsee
Vögel, die hier aufgezogen worden sind, kommen als Ausgewachsene wieder her und sorgen selbst für Nachwuchs. Inzwischen haben die drei Arten auch Mischlinge in die Welt gesetzt. Im Moorsee liegt eine Insel, darauf schlafen und brüten die Vögel. „Dort sind sie relativ sicher, weil Raubtiere wie zum Beispiel Fuchs oder Waschbär nicht durch das Wasser gehen oder schwimmen“, berichtet Dietmar Ikemeyer.
Der Wasserstand im See kann geregelt werden
Aber: Als in den vergangenen Jahren wegen trockener Sommer der Wasserspiegel zu niedrig fiel und die Insel erreichbar wurde, wirkte sich das auch auf den Bruterfolg aus – Küken wurden gefressen (im manchem Jahr blieb der Bruterfolg ganz aus), die Alttiere gestört und früh flogen sie wieder fort. „Seit einigen Jahren können wir den Wasserstand im See allerdings regeln“, berichtet Dietmar Ikemeyer, „außerdem haben wir die Insel zusätzlich mit einem Elektrozaun abgeriegelt sowie einen zehn Meter breiten und zwei Meter tiefen Graben angelegt.“
Die nördlichste Flamingo-Kolonie Europas
Füttern und Aufzucht übernehmen alle Vögel zusammen, das dauert in der Regel bis in den späten Sommer, Tiere ohne eigenen Nachwuchs verlassen das Venn früher. Wer ausschließlich wegen der Flamingos kommen mag, möge sich vorab auf der Internetseite der Station bszwillbrock.de über den aktuellen Stand erkundigen. Diese Flamingo-Kolonie gilt als die nördlichste Europas.
Dietmar Ikemeyer hat einen Tipp für Besucher: „Nutzen Sie die Zeit außerhalb der Hochsaison; die Werktage, den frühen Morgen oder den Abend, kommen sie bei schlechtem Wetter – dann sind nicht so viele Besucher hier und das Naturerlebnis im Zwillbrocker Venn ist besonders intensiv.“
Gleich einem gelben Schemen fliegt der Pirol zwischen den Bäumen, über die Wiesen weht der frohe Ruf des Kiebitzes, im Himmel kreisen Greifvögel wie der Bussard. Denn das Zwillbrocker Venn (Venn ist der niederdeutsche Ausdruck für Moor) bietet mehr als nur Flamingos, auch deshalb lohnt es sich, den ganzen Rundweg zu gehen, sich Zeit zu lassen, hinzusehen und hinzuhören.
Mehr als nur Flamingos
„Hier und in den umliegenden Naturschutzgebieten leben und rasten insgesamt rund 140 Brut- und Zugvogelarten“, sagt Dietmar Ikemeyer. Hier ist Heimat von Sumpfschrecke und Schwefelköpfchen (Heuschrecke und Pilz), von Moorfrosch und Orchideen wie zum Beispiel dem Gefleckten Knabenkraut. Auf trockenen Plätzen sonnt sich die Kreuzotter und weiß blühendes Wollgras wippt im Wind.
Artenvielfalt im Moor, die es woanders nicht mehr gibt
Es sind einsame Wege. Der sandige Pfad führt durch einen lichten Wald und der Fingerhut leuchtet in grellen Farben, Moospolster schmatzen unter den Schritten. Wasser tropft von den Zweigen der Birken und nasses Fernkraut greift nach den Beinen, die Vogelstimmen sind vielfältig – und wieder dieses merkwürdige, seltsame Kreischen; gestaucht, kurz, trillernd, das fast metallisch klingt. Moore waren Meideräume, galten als nutzlos und gefährlich. Deshalb hat sich bis heute – in dem, was davon übrig blieb – eine Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren erhalten, die es anderswo nicht mehr gibt.
Moore stehen unter strengem Schutz
Längst stehen Moore unter strengem Schutz, die Leute vom Naturschutz kümmern sich um den Erhalt dieser einzigartigen Lebensräume. Wieder reicht der Blick über Schilf und Sumpf auf den See, Böen greifen in die Bäume und ein Brausen hebt an, der Wind verwirft die Oberfläche des Wassers zu einem bizarren Spiegelbild. Die Flamingos leuchten rosa in der Düsternis eines niederdeutschen Moores. Dann fliegen sie fort. Und ihr Bild löst sich auf wie die Spiegelungen dieser schaurig-schönen Kulisse auf dem schwarzen Moorwasser, das der Wind verwirft. Wie ein irrer Traum, und Möwen wie Konfetti in den Böen.
Information:
– Biologische Station Zwillbrock e.V., Zwillbrock 10, 48691 Vreden
– bszwillbrock.de
– Münsterland e.V., Informationen zum Reiseziel Münsterland, u.a. die „Flamingo-Route“; eine rund 450 Kilometer lange Radwanderstrecke (Rundweg) im deutsch-niederländischen Grenzgebiet.
– muensterland.com/tourismus
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